Didaskalia oder „Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“ am 31.07.1829
Es war ein altdeutscher, löblicher Gebrauch, wichtigen öffentlichen Handlungen kirchliche Feierlichkeiten vorangehen zu lassen. Treu den von ihren Vorfahren ererbten gottseligen Gewohnheiten, war der Tag der Bürgermeisterwahl (Heilige Dreikönige) für die Alsfelder jedesmal ein festlicher Tag, der, ehe die weltlichen Interessen zur Sprache kamen, mit gottesdienstlichen Feierlichkeiten eröffnet wurde. Der erste Stadtgeistliche hielt einen erbaulichen Kanzelvortrag, der der Aufgabe des Tages und der damit zusammenhängenden bürgerlichen Wohlfahrt gewidmet war. Alles andere entsprach der Würde des religiös-bürgerlichen Festes; Läden und Werkstätten waren geschlossen, und Jedermann erschien im Sonntagsputze.
Die wahlfähigen Bürger kamen in der ersten Nachmittagsstunde in der Hauptkirche zusammen. Sie erschienen in langen schwarzen Mänteln und dreieckigen Hüten, deren Größe und Form an eine der früheren Epochen der Gellert‘schen Geschichte vom Hut ziemlich lebhaft erinnerte. In der Kirche theilten sich die Bürger nach Zünften, und einer jeden Zunft war eine besondere Stimmtafel als Vereinigungspunkt angewiesen.
Um ein Uhr hörte man das erste Zeichen mit der Glocke, eine halbe Stunde später das zweite, und erst um zwei Uhr ertönte das volle schöne Geläute vom Kirchthurme herab. Viele Schaulustige sammelten sich am Rathaus und dem Haupt-Eingang der Kirche, um den feierlichen Schöffenzug zu sehen. Der Justizbeamte, der Amtsschultheiß und der Syndikus, in feierlicher Amtskleidung, mit dem Galladegen an der Seite, gingen voran; ihnen folgte der Bürgermeister, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, einen dicken Bund Schlüssel in der einen, und einen dreieckigen Hut in der andern Hand haltend. Ein kleines, knapp anliegendes Sammetkäppchen diente ihm als Kopfbedeckung. Paarweise, und in demselben Costüme, folgten unmittelbar die übrigen Ratsherrn. Den Beschluss machten die vier Repräsentanten der Bürgerschaft, die Viere genannt. Langsam und mit altdeutscher Gravität bewegte sich der Zug von dem Rathhause nach der Hauptkirche. Sobald er nahete, ertönte der Ruf: Heraus! Eine Bürgerwache trat unter das Gewehr, und empfing den Zug mit militairischen Ehrenbezeigungen. Eine kleine Anzahl von Zuschauern, größtenteils dem gebildeten Stande angehörend, folgten dem Zuge in die Kirche, alle übrigen wurden von dem wachhabenden Bürgermilitair kräftig zurückgewiesen.
Die drei Beamten traten vor den Altar; ihnen zur Rechten und Linken standen die weisen Väter der Stadt, dem Altar gegenüber nahmen die verschiedenen Zünfte ihre Plätze ein. Worte des Wohlwollens und der Ermahnung richtete zuerst der Justizbeamte an den Stadtrath und die Bürgerschaft, dann sprachen der Amtsschultheiß und der Syndicus, und ihnen folgte endlich der Bürgermeister, mit einer kurzen Anrede, in welcher er gegen die ansehnliche Versammlung Gefühle des Dankes äußert, und mit der häufig nicht sehr ernstlich gemeinten Stereotyp-Phrase schloss, dass er sehnlichst wünsche, bei der bevorstehenden Wahl von den Mühseligkeiten des schweren Bürgermeisteramtes entbunden zu werden. Und zuletzt ward sogar noch eine Rede in Versen gehört, gesprochen von dem Stadtmarktmeister, der sein rhetorisch-poetisches Talent in vielfüßigen Versen geltend machte, und der achtbaren Versammlung seinen Glückwünsch zum neuen Jahr abstattete. Nun erst wurde zum Wahlgeschäft geschritten. Binnen zwei bis drei Stunden war die Wahl vollendet, und der neue Bürgermeister empfing unter vielen Glückwünschen aus den Händen seines Vorgängers die Schlüssel der Stadt. Beamte, Bürgermeister und Rath kehrten jetzt in der nämlichen Ordnung wieder nach dem Rathhause zurück, freudig begrüßt von der Musik des Türmers und seiner Gesellen, welche dem herannahenden Zuge aus den hinteren Rathauserkern die ganze Fülle ihrer harmoniereichen Töne entgegen sandten. Die Säle des Hauses waren festlich geschmückt, und gedeckte Tafeln mit Speisen und Weinen luden zum Genusse ein. Der erwähnte Musiker, ein Virtuose auf dem Zinken, machte mit seinen rüstigen Gehülfen Tafelmusik. Die Macht der Töne, waren es gleich nur bescheidene Zinkentöne, und der oft wiederkehrende Becherklang weckten den Geist heiterer Geselligkeit, und bald waren Mund und Ohr den Mittheilungen gegenseitiger Vertraulichkeit geöffnet.
Nach dem Abendschmause begann der Ball, den der neue Bürgermeister mit der Gattin seines Vorgängers eröffnete. Die übrigen Schöffen folgten seinem Beispiele, und bewegten sich im feierlichen Takte eines graziösen Menuetts, reich an künstlichen Figuren, ergötzlichen Attitüden und scharf begrenzten Bewegungen.
Nach dem Menuett zogen sich Herren und Frauen auf ihre Sitze zurück; der jüngere Theil der zahlreichen Gesellschaft trat hervor, und der Liebhaber des Tanzes durfte jetzt unter den hübschen Schöffentöchtern wählen. Erst mit dem anbrechenden Morgen verhallten die Töne des unermüdlichen Orchesters in den weiten Räumen des alten Rathauses, eines großen, unförmlichen Gebäudes, mit Fenstern, aus allen Epochen der Glasmacherkunst geziert.
So endete der festliche Tag der Bürgermeisterwahl in Alsfeld!
Ersterwähnung:
Didaskalia: Die Bürgermeisterwahl (in Alsfeld), in: Didaskalia oder „Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“, 1829, Nr. 212, Donnerstag, 31.07.1829.
Vertiefungsliteratur:
Becker, Eduard Edwin: Eine Wahlpredigt („Senatus Orthopoliticus“) von Georg Eberhard Happel, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 8. Reihe, Nr. 5, 1942, S. 33-34.
Galéra, Karl Siegmar Baron von: Die Geschichte der Stadt Alsfeld. Von den Anfängen bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges, Eigenverlag der Stadt Alsfeld, Alsfeld 1974, S. 12, 20, 66.
Jäkel, Herbert: Kleine illustrierte Geschichte der Stadt Alsfeld. Festgabe des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld aus Anlass seines 100-jährigen Bestehens 1897-1997, Alsfeld 1997, S. 27.
Jäkel, Herbert / Fink, Pierre-Christian: Alsfeld an der Schwelle zur Moderne, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld, Alsfeld 2007, S. 125-128.
Rudolf, Michael: Bürgermeisterwahlen in Alsfelds Vergangenheit. Gedankensplitter über ein historisches wie aktuelles Phänomen – ein Amt im Wandel der Zeit, in: Heimat-Chronik Alsfeld, 23. Jahrgang, 2007, Heft 8, S. 1-4.
Rudolf, Michael: Ruf nach tugendhaften Ratsherren. „Senatus Orthopoliticus“ Georg Eberhard Happel eröffnet 1646 die „Bürgermeisterwahl“. Neubesetzung der städtischen Ämter gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, in: Oberhessische Zeitung, 08.01.2019.
[Stand: 01.01.2024]