Von Heinrich Dittmar, Alsfeld (2001)
„Es muss doch endlich einmal Schluss sein damit“. Dieser Satz ist öfters zu hören, wenn es um Berichte über die Ereignisse des „3. Reiches“, insbesondere um die „jüdische Vergangenheit“ geht. Meist kommt diese Äußerung aber von Menschen, die in der Schule wenig von diesem Teil unserer Vergangenheit gehört haben und die sich auch danach kaum noch damit beschäftigt haben. Sie kennen nur die Schlagworte aus dem Fernsehen, der Presse und die Parolen der Stammtische. Sie wissen aber aus erster Quelle, dass Juden missliebige Menschen sind und waren. Menschen deren Ausrottung in Europa durch die Deutschen von den andren Völkern mit Genugtuung und Gelassenheit gesehen wurde, wie man es im Spiegel Nr. 44 vom 29.10.2001 lesen konnte. Die Spiegelserie über das 3. Reich las man natürlich nicht.
Auch die „Gnade der späten Geburt“ wird öfters bemüht. „Nicht schuldig, also nicht haftbar.” „Durch ständige Schuldzuweisungen wird die Jugend verbittert, weil sie für Dinge zahlen soll, die sie nicht zu verantworten hat.“ „Unsere Familie hatte durch Vertreibung und gefallene Angehörige auch Opfer zu bringen.“ Argumente!? Dann kommen die Menschen in „Betroffenheit”.
Ein Israelbesuch inklusive „Yad Vashem” ist ein zu Herzen gehendes Erlebnis. In der „Halle der ermordeten Kinder“ ist man zu Tränen gerührt. Wie die Alsfelder Kinder heißen, die hier auch genannt werden, weiß man leider nicht. Diese Kinder lebten in der Rittergasse, dem Zeller Weg in der Steinborngasse. Eigentlich möchte man an die schrecklichen Ereignisse, die einem in Alsfeld nahe kommen können, nicht so gerne erinnert werden.
Andere gehen mit dem Problem gedankenlos, instinktlos‚ ja fahrlässig um. In einer Pressemeldung, die vorzugsweise für Jugendliche gedacht war, konnte man über die Gründung einer Alsfelder Bank lesen. Der Titel: „Damit der Wucherer keine Chance hat!“ Wer war damit gemeint? Natürlich die Juden! Dies war der Sprachgebrauch der Zeit des oberhessischen Antisemitismus um 1890 und der NS-Zeit von 1925 bis 1945. lm Gründungsprotokoll der Bank war die Abwehr gegen zu hohe Zinszahlungen, also Wucher, in einem Nebensatz erwähnt.
Warum wird heute ein Hauptsatz daraus? Im Aufsichtsrat des Vorschussvereins saß über viele Jahre das Mitglied des Alsfelder Gemeinderates Leopold Wallach. 1881 wurde er sogar zum Vorsitzenden gewählt. Wallach war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bedeutender Arbeitgeber dieser Stadt. Sein Vater stiftete 1880 einen namhaften Betrag zur Förderung des Realschulbesuches von bedürftigen christlichen und jüdischen Kindern. Die Familie Wallach stiftete den Bau der Leichenhalle am Friedhof. Wenn man Dinge nicht weiß und nicht verantwortungsvoll recherchiert, dann sollte man nicht darüber schreiben.
Als kürzlich in einem Parlament Persönlichkeiten für langjährige ehrenamtliche Arbeit ausgezeichnet wurden, hob man hervor, dass Rückbesinnung und Erinnerung den zentralen Schwerpunkt für die Bewertung der ehrenamtlichen Arbeit darstellen. Dies gilt in gleichem Maße für die Bewertung aller historischen Ereignisse, auch für die, die uns belasten und beschweren. Es geht nicht darum, ständig in alten Wunden zu rühren, wie man oft hört. Es geht darum, Fakten festzuhalten.
Wenn eines der Opfer, ein Mensch, der im Holocaust seine Eltern und Verwandte verlor, sich nach vielen Jahren durchgerungen hat, über seine Erlebnisse und Empfindungen zu sprechen, dann sollten wir zuhören, ihn zur Kenntnis nehmen. Manche dieser Menschen haben nie über ihr Leid , ihre Empfindungen ihre Seelenqualen, selbst mit ihren Kindern nicht, sprechen können. Die Tage um den 9. November sollte man für das Hören auf diese Menschen nutzen. Ohne Pathos, ohne kommunalpolitisches oder parteipolitisches Kalkül.
Aus einer Familiengeschichte
Die Familie Rothschild ist seit 1775 in Angenrod nachweisbar. Frau Dr. Wippich, früher Romrod, nimmt an, dass diese Rothschilds aus den Familien Bacherach und Goldenberg aus Kestrich hervorgegangen sind. Sie weist auch daraufhin, dass 1349 eine Familie diesen Namens von Fritzlar nach Frankfurt ging, um die dortigen Familien, die zu großem Reichtum kamen, zu begründen.
1349 war eines der Pestjahre (1348-1352), die Pest, die zur Vernichtung vieler jüdischen Gemeinden auch in unserem Raum führte.
In Alsfeld lebten um 1930 mehrere Rothschildfamilien‚ die aus Angenrod, Lich‚ Fritzlar und Altenbuseck kamen oder auch schon mehrere Generationen in Alsfeld wohnten. Der erste Zuzug dürfte um 1850/1860 erfolgt sein.
Um 1933 gab es folgende Geschäfte und Dienstleister mit Namen Rothschild:
- Bekleidungshaus DH Rothschild Sohn, Obergasse
- Dr. Max Rothschild, Arzt, Schellengasse
- LL Rothschild, Altwarenhändler, Roßmarkt 4
- Siegfried Rothschild, Fahrräder, Nähmaschinen, Roßmarkt 4
- Arthur Rothschild, Manufakturwaren, Am Kreuz 2
- G. Rothschild Söhne, Landhandel, Untergasse
- Josef Rothschild, Bürstenmacher, Amthof 2
1913 erwarb Samuel Rothschild aus Angenrod das Haus in der Jahnstraße 5. Der Vorbesitzer Schadt war als Beamter in den Odenwald versetzt worden. Als Schadt 1916 vor Verdun fiel, kehrte seine Familie wieder nach Alsfeld zurück und zog in den 3. Stock der Jahnstraße 5 zu Familie Rothschild zur Miete. Samuel Rothschild, am 26.10.1854 in Angenrod geboren, heiratete am 28.12.1885 in Angenrod Susanne Präger, die am 20.02.1860 in Laasphe zur Welt gekommen war. Er betrieb in Alsfeld mit gutem Erfolg einen Likör- und Branntweinhandel. Die in 1890 geborene Tochter Ida heiratete am 15.11.1921 den Kaufmann Philipp Moses aus Dinslaken. Ihr Sohn Manfred wurde 1922 geboren.
1933 gehörten zum Haushalt der Familie Philipp Moses seine Frau Ida, Idas Mutter Susanne Rothschild geb. Präger, deren Sohn Moritz, der 1936 nach Südafrika ging, und natürlich Manfred, der damals die Oberrealschule in Alsfeld besuchte.
Manfred Moses, heute Michael Maynard, lebt seit 1939 in Großbritannien. Als 1988 die „Geschichte der Juden in Alsfeld“ veröffentlicht wurde, gab er viele interessante und hilfreiche Hinweise und gab Anregungen für die 2. Auflage.
In seinen Stellungnahmen wies er immer wieder daraufhin, dass man die Untaten, Verbrechen und vor allen Dingen die „vielen kleinen Hässlichkeiten“ des 3. Reiches deutlich benennen müsse. Ebenso deutlich machte er, dass man auch die „vielen kleinen Hilfen” vieler Alsfelder für die jüdischen Bewohner ihrer Stadt aufzeigen und erwähnen müsse.
Michael Maynard war öfters zu Schulkameradentreffen in Alsfeld. In meinen Gesprächen mit ihm bat ich öfters, seine Erlebnisse um den 9. November 1938 aufzuschreiben. Diesen Wunsch erfüllte er mir vor knapp zwei Jahren.
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde von ihm bzw. seinen Rechtsnachfolgern genehmigt.
Erstveröffentlichung:
Dittmar, Heinrich: Nachdenkliches zur Einführung (in den Text von Maynard, Michael: Der „Neunte“ November 1938, in: Gegen das Vergessen. 09.11.1938 – 09.11.2001. Mit 16 Jahren in Buchenwald, ein Alsfelder Schicksal. hrsg. Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Alsfeld“), Broschüre im Eigenverlag, Alsfeld 2001.
Vertiefungsliteratur:
Wippich, Ursula Miriam: Memorbuch von Klein-Jerusalem in Angenrod, Romrod 1981/1982.
Dittmar, Heinrich: Vor 80 Jahren Einweihung der Alsfelder Synagoge am 29.12.1905, in: Heimat-Chronik Alsfeld, 2. Jahrgang, 1985, Heft 12, S. 1-4.
Dittmar, Heinrich / Jäkel, Herbert: Geschichte der Juden in Alsfeld, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e.V., Alsfeld 1988.
Dittmar, Heinrich: Spuren …Spurensuche im Vogelsberg. Wegweiser zu den jüdischen Stätten im Vogelsberg. Eine Materialsammlung und der Versuch einer Dokumentation, Alsfeld, September 1994.
Dittmar, Heinrich: Die Alsfelder Realschule und Oberrealschule und seine jüdischen Schülerinnen und Schüler, Vortragstext, 28.01.2000.
[Stand: 01.01.2024]