Von Dr. Fritz Herrmann, Alsfeld (1902)
Die bevorstehende Renovierung der Walpurgiskirche wird voraussichtlich für die Freunde der Alsfelder Geschichte manchen interessanten Aufschluss und manche Bereicherung unserer Kenntnis der städtischen Vorzeit und insbesondere des kirchlichen Lebens bringen. Es ist anzunehmen, dass unter der seit langer Zeit immer wieder erneuerten Tünche der Wände altes Bildwerk zum Vorschein kommt, dass hie und da Inschriften sich finden, die bis jetzt den Forschern entgangen sind, und dass auch die alten Grabsteine, die man großenteils als Bodenbelag verwandt hat, von hervorragenden Männern und Frauen aus der Bürgerschaft sowie von Priestern und Pfarrern Kunde geben, die in dem ehrwürdigen Gotteshause ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Auch über die Entstehungszeit und die Baugeschichte der Walpurgiskirche werden die Erneuerungsarbeiten wohl Klarheit schaffen. Bekanntlich sagt eine lateinische Steininschrift, die am vorderen Eingang zum Chor linker Hand in die Mauer eingelassen ist, dass „dies rühmliche Werk“ am Tage nach Christi Himmelfahrt 1393 (16. Mai) begonnen worden sei. Aber es scheint, dass diese Abgabe sich lediglich auf das Chor bezieht, welches man damals an die bereits bestehende Kirche angebaut hat, und zwar in der Absicht, diese später zu verändern und bis auf die gleiche Höhe wie das Chor auszuführen. Diese Absicht ist aber dann aus unbekannten Gründen nicht oder doch nur teilweise aus geführt worden. Denn der Neubau des Kirchenschiffs ist bedeutend niedriger ausgefallen, als das Chor. Dass dieser mittlere Teil der Kirche aber wirklich ein Neubau bzw. Umbau einer älteren Kirche ist, lässt sich jetzt noch ganz deutlich an verschiedenen Spuren nachweisen. Insbesondere sieht auch der Laie sofort, dass auf den in geringer Höhe an den Säulen des Mittelschiffs befindlichen Kapitälen früher einmal Gewölbe aufgesessen und diese Säulen also ursprünglich in einer viel niedrigeren Kirche gestanden haben.
[Seite 4] Darüber werden wir, wie gesagt, hoffentlich bald Näheres hören. Wie über die Entstehung der Kirche so herrscht aber auch über ihren ursprünglichen Namen eine auffallende Unsicherheit. Ein offenbarer Irrtum ist’s, wenn sie Karl Dieffenbach [01] und ihm folgend auch Philipp Dieffenbach [02] Walpurgiskirche oder Katharinenkirche nennt; einen der heiligen Katharina geweihten, im Jahre 1357 gestifteten Altar besaß die Kirche zwar, aber Katharinenkirche hat sie nie geheißen. Jedenfalls steht der Name Walpurgiskirche durch die oben erwähnte lateinische Inschrift am Chor für die Zeit nach 1393 fest. Denn dort heißt es, dass das Werk zur Ehre Gottes, der Maria und der Jungfrau Walpurgis gebaut wurde. Aber hieß die Kirche auch früher so? Es existiert zwar ein alter lateinischer Vers (in der handschriftlichen „Chorographie“ der Stadt Alsfeld von Moritz von Gilsa, daraus mitgeteilt bei W. G. Soldan [03], welcher die dem heiligen Martin geweihte Kapelle zu Schwabenrod, die dem heiligen Anton geweihte zu Leusel, die der heiligen Barbara geweihte zu Altenburg und die der heiligen Magdalene geweihte zu Eifa mit Sternen vergleicht, welche die der heiligen Walpurgis geweihte Mutterkirche zu Alsfeld als die Sonne umgeben; aber es ist nicht zu sagen, ob dieser Vers aus der Zeit vor 1393 stammt. Nebel [04] endlich lässt die frühere Alsfelder Pfarrkirche dem heiligen Leonhard geweiht sein. Jedenfalls ist also der ursprüngliche Name unserer Kirche bisher urkundlich nicht nachweisbar gewesen.
Dieser Unsicherheit macht nun ein im hiesigen Pfarrarchiv befindlicher Ablassbrief aus dem Jahre 1336 ein Ende. Darin wird die Kirche nämlich – was in den seither bekannten Urkunden nicht der Fall war – mit ihrem Namen bezeichnet und zwar als Walpurgis-Kirche (Walpurgiskirche). Somit steht fest, dass der noch jetzt gebräuchliche Name schon vor 1393 und wahrscheinlich von allem Anfang an gebräuchlich war. Über dieses interessante Dokument, ein Pergament, von welchem das Siegel des Ausstellers abgefallen ist und das demnächst im Museum des hiesigen Geschichts- und Altertumsvereins ausgestellt werden wird, seien uns hier einige Bemerkungen verstattet. Wir geben zunächst den lateinischenWortlaut wieder und lassen ihm die Übersetzung folgen:
„Dei gratia nos Hermannus, Belonvilonensis ecclesiae episcopus, ecclesiae Maguntinensis in pontificalibus [Seite 5] et spiritualibus vices gerens, omnibus vere penitentibus et confessis seu in vero confitendi proposito existentibus, in ecclesia sanctae Walpurgis opidi Alsveld divina officia vel verbum dei audientibus sive pronuntiantibus, cymiterium ibidem pro defunctis orando circumeuntibus, venerandum corpus domini nosti Jesu Christi, cum infirmis portatur, humiliter comitantibus, sacerdotem in cymiterii circuitu a tergo reverenter sequentibus, necnon eidem ecclesiae sive ipsius rectori, qui pro tempore fuerit, manum adiutricem quocumque modo, verbo vel opere porrigentibus, quadraginta dierum indulgentias et unam karenam in domino misericorditer relaxamus, dantes has nostras literas in testimonium super eo anno domini MCCCXXXVI ipso die Georgii“.
Zu Deutsch: „Von Gottes Gnaden wir, Hermann, Bischof von Belonvilonen, Vikar der Mainzer Kirche in bischöflichen und geistlichen Sachen, verleihen allen, die wahrhaft bereuen und gebeichtet haben oder zu beichten wirklich vorhaben, und die in der Kirche der heiligen Walpurgis in der Stadt Alsfeld die göttlichen Ämter oder das Wort Gottes an hören oder verkündigen, auf dem Kirchhof daselbst im Gebet für die Verstorbenen umhergehen, den verehrungswürdigen Leib unseres Herrn Jesu Christi, wenn er zu Kranken getragen wird, demütig begleiten, hinter dem Priester beim Umgang auf dem Kirchhof andächtig hergehen, und welche dieser Kirche oder ihrem jeweiligen Pfarrer auf irgend eine Weise, mit Wort oder That sich hülfreich erweisen, erbarmungsvoll in dem Herrn einen Ablass von 40 Tagen und eine Karene. Zum Zeugnis darüber stellen wir diesen unseren Brief aus im Jahre des Herrn 1336 am Georgstage“. (23. April)
Höchstwahrscheinlich stellt dieser Ablassbrief nur die Bestätigung eines anderen, jetzt nicht mehr vorhandenen dar, welcher am damals zu Avignon befindlichen päpstlichen Hofe natürlich gegen entsprechende Bezahlung – für unsere Walpurgiskirche ausgestellt worden war. Ein solcher päpstlicher Ablassbrief enthielt gewöhnlich die Klausel, dass die Zustimmung des Diözesanoberen, in unserem Falle also des Erzbischofs von Mainz, zur Gültigkeit nötig sei. Und diese Zustimmung ist es jedenfalls, die in dem Pergament auf uns gekommen ist. Sie ist nicht von dem Erzbischof selbst – es war damals Graf Heinrich von Virneburg –, sondern von seinem Vikar Hermann ausgestellt, der Titularbischof von Belonvilonen (auch Belonvilen) in Palästina war.
[Seite 6] Den Besuchern der Walpurgiskirche werden also durch dieses Dokument unter den angegebenen Bedingungen 40 Tage von ihrer gesamten Bußzeit nachgelassen. Unter einer Karene verstand man eine von einem Bischof oder Klosteroberen für größere Sünden auferlegte 40-tägige Buße, während welcher der Büßer u.a. ein strenges Fasten einhalten musste. In manchen Fällen wurden dem Christen eine große Anzahl, bis 100 und mehr solcher Karenen zudictirt; von einer derselben konnte er sich durch den Besuch unserer Kirche befreien.
Diese Gelegenheit, Ablass zu erlangen, war übrigens nicht die einzige, welche den Bewohnern der Stadt Alsfeld und ihrer Umgebung zur Verfügung stand. Man kennt noch zwei andere Ablassverleihungen, welche unter ähnlichen Bedingungen und in ähnlichem Maße die Erleichterung der von der Kirche auferlegten Bußen ermöglichten. Einer dieser Ablässe ist älter als der für die Walpurgiskirche. Nämlich der der Kapelle des Heilig-Geist-Spitals – es lag vor dem Hersfelder Tor jenseits der Schwalmbrücke rechter Hand – im Jahre 1294 von dem Bischof Manegold von Würzburg verliehene, welchen J. E. Ch. Schmidt (Geschichte des Großherzogtums Hessen, Band 2, S. 431) erwähnt. Als die Stadt im Jahre 1407 für dieses durch Misswachs und Kriegsnöte zurückgegangene Spital auswärts kollektieren ließ, verfehlte sie nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass es mit Ablass reich ausgestattet sei und man also durch seine Unterstützung einen Teil der Strafen und Bußen, welche die Kirche auferlegt hatte, los werden könne.
Der zweite noch zu erwähnende Ablass wurde bei Gelegenheit der Errichtung eines neuen Nebenaltars in der Walpurgiskirche im Jahre 1368 von dem Vikar des Erzbischofs Gerlach von Mainz, Frater Albert von Bychelingen verliehen; die Urkunde ist noch vorhanden und wird unter den Pergamenten auf dem hiesigen Rathaus aufbewahrt. Der genannte Vikar verleiht allen denen, welche auf dem Friedhof der Pfarrkirche zu Alsfeld und besonders vor dem Beinhaus oder dem Ort, an welchem die Gebeine der auf dem genannten Kirchhof begrabenen Gläubigen niedergelegt und aufbewahrt werden, umhergehen und zum Heil der Seelen aller Gläubigen, die daselbst oder sonstwo begraben sind, mit andächtigem Herzen dreimal abwechselnd ein Vaterunser und ein Ave Maria beten; ferner denen, welche für den Gottesdienst oder das Beinhaus durch barmherzige Schenkungen und Zuwendungen irgendwie sich hilfreich erweisen; ebenso denen, welche um zu beten, zu verehren und [Seite 7] zu wallfahrten sich dem am 30. Mai 1368 zu Ehren des heiligen Kreuzes und der Heiligen: Georg, zehntausend Märtyrer, Felix Adauctus und Jungfrau Margarethe in der Kirche zu Alsfeld eingeweihten Altar andächtig nahen und daselbst in Demut und Andacht Messen hören; endlich denen, welche an das Bild des heiligen Kreuzes, das in der genannten Kirche zu Alsfeld zu Ehren des allmächtigen Gottes, des heiligen Kreuzes und der glorreichen Jungfrau Maria errichtet ist, herantreten um Ablass zu erlangen – einen Ablass von 40 Tagen. Die Erwähnung eines Kirchhofs in dieser Urkunde hat W. G. Soldan (Zur Geschichte der Stadt Alsfeld, S. 8) zu der irrigen Behauptung verführt, dass es sich um den im Jahre 1365 angelegten neuen Friedhof auf dem Frauenberge handele. Gemeint ist aber der alte Begräbnisplatz um die Walpurgiskirche. Nebenbei beweist diese Urkunde, dass vor dem jetzt noch stehenden, 1510 errichteten Beinhaus bereits ein anderes in der Nähe der Kirche gestanden hat.
Es ist ein eigentümliches und unserer seit vier Jahrhunderten evangelischen Stadt fremd gewordenes kirchliches und religiöses Leben, das uns aus diesen Urkunden entgegen tritt. Wir sehen eine Bevölkerung, die dem katholischen Glauben anhängt und die ihr von der Kirche gebotenen Heilsmittel eifrig benutzt. Zahlreiche Altäre mit eigenen Priestern ziehen die Gläubigen an und geben ihnen die Möglichkeit, Messen zu hören. Auf dem Kirchhofe beten die Andächtigen für das Heil der abgeschiedenen Seelen und um Erleichterung von deren Loos in dem vermeintlichen Fegfeuer. Wenn der Priester umhergeht, um die Gräber mit geweihtem Wasser zu besprengen, folgt ihm eine große Schar. Desgleichen wenn er das Sakrament zu einem Kranken trägt. Aus der Umgegend kommen die Landleute, um sich die Gnade des Ablasses, der ihnen in der Stadt geboten wurde, nicht entgehen zu lassen. Und gar Mancher macht der Kirche oder einzelnen Altären bedeutende Schenkungen, damit seiner in jedem Jahre am bestimmten Tage bei der Messe gedacht und für das Heil seiner Seele gebetet werde. – Wie ganz anders ist das Alles geworden! Der Sturm, der sich in Wittenberg erhob, hat auch hier reinigend gewirkt: der katholische Kultus mit allem Zubehör, Priester, Messe, Wallfahrten, Ablässe schwanden, und zwar – das sollte in Alsfeld nie vergessen werden – durch den Willen der Bevölkerung, die durch den Augustinermönch Tilemann Schnabel, den Schüler Luthers, mit dem evangelischen Glauben bekannt geworden war. Wenn sonst in manchen Fällen der Wille des Fürsten zum Glaubenswechsel den Anstoß [Seite 8] gab: hier in Alsfeld war es das Volk, welches sich der Reformation anschloss. Bekanntlich ist ja unsere Stadt die erste in Hessen gewesen, die evangelische Neigungen zeigte, und zwar zu einer Zeit, da der Landesfürst, Landgraf Philipp der Großmütige. noch nicht daran dachte, sich der evangelischen Sache anzuschließen.
Das ehrwürdige Gotteshaus, die Walpurgiskirche, wurde in die evangelische Zeit mit herübergenommen und hat seit nun bald 400 Jahren der Erbauung einer evangelischen Bevölkerung gedient. Unsere katholischen Vorfahren haben es einst mit großen Opfern errichtet, unsere evangelischen Vorfahren haben es bisher erhalten, und wir müssen nun dafür sorgen, dass es auch späteren Generationen, unseren Kindern und Kindeskindern als Erbauungsstätte dienen kann. Möge es den vereinten Bemühungen der Stadtverwaltung und des neugegründeten Kirchbauvereins gelingen, seine baldige gründliche Wiederherstellung herbeizuführen. Der opferwillige Sinn der evangelischen Bürgerschaft wird gewiss gern das Seine dazu beitragen, dass dieses Ziel erreicht wird.
Fußnoten:
[01] Dieffenbach, Karl: Geschichte der Stadt Alsfeld, Gießen 1817, S. 30
[02] Dieffenbach, Philipp: Auszug aus dem Tagebuche einer im Auftrag des historischen Vereins unternommenen Reise, in: Archiv für Hessische Geschichte, 1848, Band 5, Heft 1, Nr. 4, hier: S. 49,
https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10018301?page=116
[03] Soldan, Wilhelm Gottlieb: Zur Geschichte der Stadt Alsfeld. (Teil 1/2), Wissenschaftliche Beigabe: Programm des Großherzoglich hessischen Gymnasiums zu Gießen, als Einladung zu den am 20., 21. und 22.03.1861 statt findenden öffentlichen Schulfeierlichkeiten, 1861, hier: S. 18.
http://www.publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/15615
[04] Nebel: (lässt die frühere Pfarrkirche – Walpurgiskirche – dem heiligen St. Leonhard geweiht sein),
in: Archiv für hessische Geschichte und Alterthumskunde, Band 4, 1845, Heft 2 und 3, Nr. 9, S. 4.
Erstveröffentlichung:
Herrmann, Fritz: Ein Ablassbrief für die Walpurgiskirche zu Alsfeld aus dem Jahre 1336, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 1. Reihe, Nr. 1, 1902, S. 3-8.
(Dr. Fritz Herrmann war von 1901-1903 Pfarrer in Alsfeld.)
[Stand: 10.02.2024]