Die Alsfelder Dirigierrolle in ihrer Beziehung zum Alsfelder Passionsspiel

Von Doris Bernhardt, Alten Buseck (1972)

Das geistliche Schauspiel des Mittelalters, dessen Anfänge in den lateinischen, aus wenigen Wechselreden bestehenden Osterfeiern zu suchen sind, erreicht mit den Passionsspielen des 14./15. Jahrhunderts seinen größten Umfang.

Aus Alsfeld ist uns ein solches Spiel in zwei Handschriften überliefert, einmal das jetzt in Kassel befindliche Alsfelder Passionsspiel, zum anderen die Alsfelder Dirigierrolle, die im Alsfelder Stadtarchiv verblieben ist. Es ist das umfangreichste der dort aufbewahrten Dokumente aus dem Spätmittelalter neben den wenigen Rollenbruchstücken aus dem Alsfelder Passionsspiel.

Universität Kassel: Alsfelder Passionsspiel. Handschrift, Friedberg, 1501/1517, Deckblatt-Auszug
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[Ergänzend eingefügt und Repro von GFA]

Im Unterschied zu der Handschrift des Volltextes wurde eine Dirigierrolle für den unmittelbaren Gebrauch des Regisseurs einer Theateraufführung, des Regens, geschrieben und während der Aufführung verwendet. Es erscheint nicht der gesamte Text, sondern nur ein Auszug, nämlich alle Regieanweisungen, die überwiegend lateinisch sind, samt den lateinischen liturgischen Reden und Gesängen und von den deutschen Reden jeweils der erste Vers, der die Funktion eines Stichworts hat.

Neben der Alsfelder Dirigierrolle finden sich im hessischen Raum noch zwei weitere Rollen, die Friedberger und die Frankfurter. Die Handschriften des Volltextes, der zu diesen beiden Rollen gehört, sind verlorengegangen, so dass wir bei der Rekonstruktion der Texte auf Vermutungen angewiesen sind.

Anders sieht es bei der Alsfelder Dirigierrolle aus. Sie gehört zu dem Passionsspieltext, den uns die Kasseler Handschrift überliefert. Dadurch können wir ohne Schwierigkeiten den Inhalt der Rolle ergänzen.

Die Handschrift der Dirigierrolle

Die Handschrift der Dirigierrolle wird im Alsfelder Stadtarchiv aufbewahrt und befindet sich im Museum. Sie ist im Schmalfolioformat (33×11 cm) gehalten und umfaßt 45 Blätter. Die Handschrift ist in sehr gutem Zustand. Beschädigungen kommen nicht vor. Lediglich der erste Folio weist dunkle Flecken auf, die in der Zeit entstanden, als die Handschrift noch keinen Einband hatte. Seit dem 27.09.1969 werden die vormals losen Blätter durch einen festen Einband geschützt. Die Schrift ist klar und leicht lesbar. Die Regieanweisungen sind mit roter Farbe unterstrichen. Wie bei allen spätmittelalterlichen Handschriften lässt die Art der Schrift keine genauere Datierung als allgemein Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts zu.

Es hat nur ein Schreiber an der Rolle gearbeitet. Erst am Schluss kommt mit den vier Abschlussversen eine zweite Hand hinzu.

Der Inhalt des Spiels

Das Alsfelder Passionsspiel stellt in engem Anschluss an die Bibel die Leidensgeschichte Christi, die Auferstehung und die Ausgießung des Heiligen Geistes dar. Die Handlung ist auf drei Tage verteilt.

Eröffnet wird das Spiel durch den Proclamator, dessen Aufgabe es ist, die Zuschauer auf das auf sie zukommende dramatische Geschehen vorzubereiten und sie zu Ruhe und Aufmerksamkeit zu ermahnen. Die wiederholten Aufforderungen „Silete“ im [Seite-112] Verlauf des Spiels zeigen, dass die große Menge der Anwesenden auf dem Marktplatz oft nur schwer im Zaum gehalten werden konnte, da sie an dem Geschehen auf der Bühne lebhaften Anteil nahm. Die Juden, als die Feinde Jesu, wurden immer besonders abschreckend dargestellt, und es konnte vorkommen, dass nach Passionsspielaufführungen die jüdischen Stadtviertel von wütenden Zuschauern gestürmt wurden.

Die Handlung, die nach der Proclamator-Vorrede einsetzt, beginnt nicht unmittelbar mit der Geschichte Jesu, sondern mit einem Teufelsvorspiel. Der Teufel als Gegenspieler Gottes versucht, den Heilsplan zu vereiteln, Jesus zu töten und die Menschen zu verführen. Auf der Bühne erscheint eine ganze Teufelsschar mit Lucifer als König und Sathanas als erstem Gehilfen. Derbe Ausdrücke und wildes Benehmen kennzeichnen die Teufel und geben den Zuschauern Anlass zur Belustigung.

Doch damit ist die Funktion der Teufelsdarstellung noch nicht erschöpft. Durch sie sollen die Zuschauer ermahnt werden, ein gottgefälliges Leben zu führen und stets auf der Hut zu sein. Von allen Seiten sind sie von Teufeln umgeben, von denen jeder für eine bestimmte Sünde zuständig ist, zum Beispiel für Wucher, falsche Gewichte der Kaufleute, Ehebruch, Mord, Diebstahl, Raub. Die Teufel freuen sich, wenn sie ihrem Herrn Lucifer möglichst viele Sünder bringen können, weil sie dann eine Belohnung erwartet.

In dem auf diese Szene folgenden Johannes-Spiel wird ein erstes Beispiel für das Wirken der höllischen Mächte gegeben. Johannes, der das Auftreten Jesu verkündet und ihn getauft hat, wird von Herodes eingekerkert. Der Frau des Königs, Herodias, und seiner Tochter erscheint Sathan als Priester verkleidet und veranlasst sie, um das Haupt des Johannes zu bitten. Als der höllische Plan gelungen ist, werden die Verführten, Mutter und Tochter, unter schrecklichem Geschrei der Teufel in die Hölle geholt, wo sie den Tag ihrer Geburt verfluchen.

Nun setzt die eigentliche Jesus-Handlung ein. Sathan erscheint wiederum als heiliger Mann verkleidet vor Jesus, der in der Wüste fastet, doch im Unterschied zu Herodias widersteht Jesus der Verführung und durchschaut die teuflische List. Nach der Berufung der Jünger folgt der Komplex der Wundertaten Jesu (Samaritanisches Weib, Blinden-Heilung, Lazarus-Erweckung), zu dem auch die Bekehrung der Maria Magdalena gehört.

Im Zusammenhang mit dieser Gestalt hat sich in den Passionsspielen eine Tradition entwickelt, die von der biblischen Vorlage in einzelnen Punkten divergiert. Maria Magdalena wird zum Prototyp eines nur dem Weltleben hingegebenen Menschen. Sie steht ganz unter dem Einfluss höllischer Mächte, denn ihr ständiger Begleiter ist der Teufel Natyr. Maria trägt gern schöne Kleider und hat als äußeres Zeichen ihrer Eitelkeit einen Spiegel bei sich. Wie die Tochter der Herodias liebt sie den Tanz, der zum Sinnbild allen weltlichen übermütigen Treibens wird. Den Mahnungen ihrer schon alten Schwester Martha, dem Weltleben um ihres Seelenheils willen zu entsagen, schenkt Maria kein Gehör. Jesus aber gelingt es, durch eine einzige Predigt das Wunder der inneren Wandlung zu bewirken. Maria Magdalena zieht sich von der Welt zurück und bereut ihre Sünden. So entgeht sie dem Teufel, der sich bitter darüber beklagt, dass ihm seine schon sicher geglaubte Beute entrissen wurde.

Gemäß der Bibelhandlung zieht nun Jesus nach Jerusalem. Mit dem Gastmahl bei Simon, wo die reuige Maria Magdalena noch einmal auftritt, und mit einer zusammenfassenden Rede des Proclamators schließt der erste Tag der Handlung.

Am zweiten Tag wird Abendmahl, Judas-Verrat, der auch ein Werk des Teufels ist, und der Prozess Jesu vor den verschiedenen Gremien (Annas, Kaiphas, Pilatus, Herodes) dargestellt. Mit der Verurteilung Jesu durch Pilatus endet dieser Tag. [Seite-113/114]

Mit der Kreuzigung, dem Tod und der Grablegung Jesu wird die Handlung des dritten Tages eröffnet. Die Geschehnisse spiegeln sich in den Klagen der Gottesmutter Maria, die den Hauptteil der Szenen ausmachen und auf denen der eigentliche Akzent liegt.

Ohne biblisches Vorbild sind zwei Szenen: Der blinde Longinus durchsticht mit dem Speer die Seite Jesu und wird durch das Blut geheilt. Nach dem Tode Jesu kämpfen der Erzengel Michael und Sathan um die Seele Jesu. Sathan unterliegt und muss einen kläglichen Rückzug in die Hölle antreten.

An den eigentlichen Passionsspielteil schließt sich eine Osterhandlung an. Christus überwindet den Tod. Die Grabwächter, die sich eingebildet hatten, sie könnten die Auferstehung verhindern, werden zu lächerlichen Figuren. Als sie schlafend am offenen Grab gefunden werden, werden sie von den enttäuschten Hohenpriestern in ein Handgemenge verwickelt.

Der siegreiche Christus zieht zur Hölle, besiegt Lucifer und befreit die erwählten Seelen aus der Gefangenschaft. Die ewig Verdammten bleiben klagend zurück. Auch hier wird den Zuschauern ihr zukünftiges Schicksal vor Augen gestellt, das ihnen droht, wenn sie nicht den Geboten der Kirche gehorchen.

Mit der Erscheinung Christi bei den Jüngern, der Himmelfahrt und der Ausgießung des Heiligen Geistes endet der Text der Dirigierrolle. Den Abschluss des Volltextes bildet die Aussendung der Apostel und eine Proclamatorrede.

Unterschiede zwischen Volltext und Rolle

Die Alsfelder Dirigierrolle blieb lange Zeit von der Forschung unbeachtet. Der Grund lag wohl darin, dass sie gegenüber dem Alsfelder Passionsspiel keinen neuen Text bot. Nur Hans Legband schrieb 1904 eine Dissertation über die Rolle. (Die Alsfelder Dirigierrolle. Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde, Neue Folge, Bd. 3, Heft 3).

Dabei bietet ein Textvergleich zwischen beiden Handschriften die einmalige Möglichkeit zu zeigen, dass ein Passionsspiel auch innerhalb einer kurzen Zeit variiert und erweitert wurde. Der Schreiber hielt sich nicht sklavisch an den vorgegebenen Text, sondern war durchaus selbständig.

Gleich der Anfang beider Texte bietet dafür ein Beispiel. Im Volltext wird das Spiel durch zwei lange Einleitungsreden des Proclamators und des Regens eröffnet, die das Publikum sicher gelangweilt haben, weil sie sich inhaltlich sehr stark gleichen. Deshalb ersetzt die Rolle die zweite Rede durch einen Wechselgesang zwischen Publikum und Proclamator, durch den die Zuschauer in das Bühnengeschehen einbezogen werden. Auf diese Weise wird das Publikum zur Teilnahme und Aufmerksamkeit veranlasst.

Vilmar, August Friedrich Christian (Hrsg.): Alsfelder Passionsspiel, in: Zeitschrift für
deutsches Altertum / Alterthum, S. Hirzel Verlag, 1843, 3. Band, S. 1 (Auszug).
[Ergänzend eingefügt und Repro von GFA]

Eine Erweiterung findet sich in der Judas-Szene. Judas zählt sein Geld, das er für seinen Verrat erhalten hat. Dafür gibt es keine biblische Vorlage. Sein Gegenspieler ist Caiphas, der ihn überreden will, das falsche Geld doch zu nehmen. Der Volltext wird in der Rolle noch um 20 Verse erweitert, die sich durch den derben Ton auszeichnen, mit dem Caiphas auf die Vorhaltungen des Judas antwortet. Dies dient nicht nur der Belustigung der Zuschauer. Durch solche Redeweise soll das Ansehen des Hohenpriesters geschmälert werden, der als hochgestellte Persönlichkeit im jüdischen Volk seine Würde bewahren müsste. Auch hier versucht der Spieltext, die Feinde Jesu als niedrige und unedle Charaktere darzustellen.
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Die Rolle erweitert nicht nur Szenen, sondern lässt auch völlig neue Gestalten auftreten. Im Spiel tritt die allegorische Figur „Mors“ auf, deren Rolle gegenüber dem Volltext nicht nur vergrößert wird, sondern der noch eine zweite allegorische Figur, Tempus, zur Seite gestellt wird. Obwohl die Dirigierrolle den Text, den diese Figuren sprechen, nicht ausführt, können wir annehmen, dass sie, wie in den Moralitätendramen des Jedermann-Typus, eine Mahnerfunktion hatten. Die Zuschauer sollten sich vor Augen halten, dass ihr Ende nahe sein konnte und wie schnell die Zeit verrann.

Schließlich zeigt der Vergleich der beiden Handschriften, dass die Dirigierrolle fragmentarisch ist. Der Volltext schließt mit der Aussendung der Apostel und einer Schlussrede des Proclamators. Beides fehlt in der Dirigierrolle. Eine andere Hand hat einen provisorisch anmutenden Schluss mit dem Auftritt von Mors und Tempus hinzugefügt. Da noch unbeschriebene Blätter vorhanden sind, ist es möglich, dass der erste Schreiber der Dirigierrolle einen Textteil einfügen wollte, der nicht in der Vorlage stand. Durch ein nicht mehr rekonstruierbares Ereignis wurde er an der Vollendung der Handschrift gehindert.

Universität Kassel: Alsfelder Passionsspiel. Handschrift, Friedberg, 1501/1517, Seite 1 (Auszug)
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[Ergänzend eingefügt und Repro von GFA]

Datierung und Schreiber der Dirigierrolle

Durch den Vergleich mit dem Volltext wird eine genauere Datierung der Handschrift ermöglicht. Die Kasseler Handschrift gibt drei Daten für Passionsspielaufführungen in Alsfeld an: 1501, 1511, 1517. Dazu kommen Hinweise, wie der Text für die einzelnen Aufführungen erweitert oder umgestaltet wurde.

Die Textlage der Dirigierrolle zeigt, dass sie keiner der drei genannten Aufführungen direkt zugeordnet werden kann. Der Text ist gegenüber 1501 erweitert, aber es sind nicht alle Szenen da, die für die Aufführung von 1511 genannt werden. Vermutlich war zwischen 1501 und 1511 eine Aufführung geplant, die aus unbekannten Gründen nicht zustande kam.

An dem Volltext haben vier Schreiber gearbeitet, die sich deutlich in ihrer Schrift und auch in einzelnen Lautformen von einander unterscheiden. Ein Vergleich zwischen Volltext und Dirigierrolle zeigt, dass die Rolle von dem Schreiber C des Volltextes geschaffen wurde. Dieser Schreiber hat noch nach 1517 für das Passionsspiel eine lange Szene verfasst, den Salbenkauf der drei Marien, die nicht mehr aufgeführt werden konnte, da mit der Einführung der Reformation in Alsfeld im Jahre 1522 die Passionsspielaufführungen aufhörten. Der Schreiber C hat sich also lange Zeit mit dem Spiel befasst und besaß eine gute Kenntnis des Textes. Wir können annehmen, dass er an den Spielaufführungen aktiv mitarbeitete. Vermutlich hatte er die Funktion des Regens oder des Proclamators und schrieb die Rolle für den eigenen Gebrauch. Es lässt sich zeigen, dass er den Proclamatorreden besondere Aufmerksamkeit widmete und sie gegenüber dem Volltext erweiterte und ergänzte.

Die Ergänzungen einzelner lateinischer Reden und die Kenntnis der liturgischen Gesänge lassen vermuten, dass der Schreiber ein Geistlicher war. Eine Dialektuntersuchung deutet auf einen aus Alsfeld gebürtigen Schreiber hin. Der Besitz des Passionsspiels und der Dirigierrolle weist Alsfeld als eine im Spätmittelalter bedeutende Stadt aus, die enge Beziehungen zu Friedberg und Frankfurt hatte. Sie muß relativ wohlhabend gewesen sein, denn wie die Aufzeichnungen aus anderen Städten beweisen, kostete eine dreitägige Spielaufführung viel Geld. Da die Zünfte Träger der Aufführungen waren, hatte Alsfeld damals wohl ein reiches Zunftleben.

Erstveröffentlichung:

Doris Bernhardt, Die Alsfelder Dirigierrolle in ihrer Beziehung zum Alsfelder Passionsspiel, in: GMV Alsfeld (Hrsg.): Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, 1972, S. 111-116.

Anmerkung:

Die vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e.V. 1972 herausgegebene Festschrift „750-Jahre Stadt Alsfeld 1222-1972“, die den vorliegenden Text enthält, verzichtet, abgesehen von der Kennzeichnung weniger Grafiken, auf Copyright-Vermerke oder andere publikationsrechtliche Einschränkungen.

Vertiefungsliteratur:

Stadtarchiv Alsfeld: Alsfelder Dirigierrolle des Alsfelder Passionsspiels, Original, ohne Signatur.

Universität Kassel: Alsfelder Passionsspiel. Handschrift, Friedberg, 1501/1517,
http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/image/1345120324475/1/

Vilmar, August Friedrich Christian (Hrsg.): Alsfelder Passionsspiel,
in: Zeitschrift für deutsches Altertum / Alterthum, S. Hirzel Verlag, 1843, 3. Band, S. 477-518.

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[Stand: 24.03.2024]