Zur Geschichte des Beinhauses in Alsfeld

Von Dr. Norbert Hansen, Alsfeld (2018)

Vorbemerkung

Zu Alsfelds wichtigen historischen Gebäuden gehört zweifelsohne auch das frühere Beinhaus am Kirchplatz hinter der Walpurgiskirche. Sein Äußeres erinnert an eine gotische Kapelle und die in Stein gehauene Zahl 1510 über der Eingangstür dokumentiert das Alter des Hauses. [Abb. 1] Ob es sich dabei um das Jahr eines Neubaus oder eines Um- bzw. Erweiterungsbaus eines noch älteren, unbekannten Vorgängergebäudes handelt, ist noch nicht umfassend untersucht worden. Zwar wird in der Literatur immer wieder Bezug genommen auf das Jahr 1368, als in einem Ablassbrief für die Walpurgiskirche ein Beinhaus am einstigen Friedhof (Kirchhof) erwähnt worden sein soll, aber in manchen Veröffentlichungen zu dieser Frage finden sich nicht belegte Schlussfolgerungen bzw. irreführende Antworten.

Abbildung 1: Heutige Ansicht des Beinhauses
Foto: Norbert Hansen

So steht auf der seit über 40 Jahren am Gebäude angebrachten Informationstafel „1368 erbaut“. Diese Interpretation entspricht nicht dem Wortlaut der vorerwähnten Ablassurkunde. Ebenfalls unbewiesen ist die Standortangabe des Wikipedia-Eintrags im Internet unter Beinhaus (Alsfeld) „Ein erstes Beinhaus, dessen Reste im Mauerwerk des Chores erhalten sind, wird 1368 an seiner heutigen Stelle genannt.“ Nirgendwo ist belegt, dass ein Vorgängerbauwerk am Platze des heutigen Beinhauses gestanden hat, und die frühere Annahme zum Alter des Chorpolygons ist inzwischen widerlegt, worauf später noch eingegangen wird.

Gesichert ist nur, dass der mit 1510 gekennzeichnete Gebäudeteil als Kapelle für liturgische Zwecke wie z. B. Totenmessen ausgestattet war. Dies belegt der noch heute am Ende der südlichen Außenmauer sichtbare Wasserausguss (piscina). Durch ihn floss aus einem im Innern neben dem Altar befindlichen Becken das zur Reinigung der liturgischen Geräte gebrauchte Wasser in den geweihten Boden des Kirchhofs. Da keine Weiheurkunde für diesen Altar existiert, ist auch nicht überliefert, unter welchem Patrozinium er gestanden hat. Es könnte der Erzengel Michael gewesen sein. Als Beschützer und Begleiter der Seelen der Verstorbenen ins Totenreich ist er in Deutschland „der mit Abstand am häufigsten gewählte Titelheilige einer Karner-Kapelle.“ Und einen Michaelsaltar gab es in Alsfeld bereits seit 1357. Später wird dieser Altar nur noch einmal in einer Urkunde vom 21. Juli 1365 erwähnt, ohne dass ein Bezug zu einem Beinhaus erkennbar wäre.

Kulturgeschichtliches über das Beinhaus

Wegen der Vielschichtigkeit dieses Themas sollen hier nur Aspekte angesprochen werden, die für die Alsfelder Situation Relevanz haben. Zu allen Zeiten galten Beinhäuser als sakrale Bauwerke, die auf einem Friedhof in unmittelbarer Nähe zu einer (Pfarr-)Kirche standen. Damit wird deutlich, dass eine von Kirche und Friedhof losgelöste Behandlung des Themas Beinhaus weder sinnvoll noch möglich ist, was gerade für das Alsfelder Beispiel gilt. In einem Beinhaus wurden also Totengebeine, die bei der Ausschachtung für eine neue Bestattung auf dem Friedhof in einem früheren Grab gefunden wurden, gesammelt und aufbewahrt. in der Fachliteratur wird üblicherweise der inzwischen eingedeutschte Begriff Karner verwendet, abgeleitet vom lateinischen caro = Fleisch.

Um den Seelen der Verstorbenen die Segenswirkungen der Heiligen Messe zu erhalten, sollte das Beinhaus so nah wie möglich an der Kirche liegen. „Dass einst auf jedem Pfarrfriedhof neben, unter oder an der Kirche ein Karner vorhanden war, darüber kann kein Zweifel bestehen.“ Bereits die Synoden von Münster (1279) und Köln (1280) hatten sie verbindlich vorgeschrieben. In den fast gleichlautenden Texten geht es darum, die abgeschlossenen und befestigten Friedhöfe zu bewachen, damit die Gebeine der Verstorbenen weder von Schweinen noch anderen Tieren gefressen werden; deshalb sollten die Totenknochen an einem besonderen Ort zuverlässig aufbewahrt werden.

Diese kirchliche Verordnung war aber nicht ausschlaggebend für die wachsende Zahl von Beinhäusern im Mittelalter. Zunehmender Platzmangel auf den Kirchhöfen infolge von Bevölkerungswachstum und Kirchbauerweiterungen sowie steigender Bedarf an Grabstellen durch Seuchenopfern waren die Hauptgründe. Beinhäuser, wenn auch vielleicht nur als Grüfte, gehörten auf mittelalterlichen Friedhöfen zur Normalität.

Dabei gab es keine einheitliche Auffassung über die richtige Stellung des Karners zur Pfarrkirche, in der Literatur wird einmal die nördliche Anordnung als vorherrschend angegeben. Eine jüngere Abhandlung zählt – auf Deutschland bezogen – bei 88 Auswertungen 44 auf der Süd-, 35 auf der Nord- und 9 auf der Westseite. Ob Nord- oder Südpositionierung war offenbar weniger eine dogmatische als eine aus örtlichen Gegebenheiten begründete Entscheidung.

Aus typologischer Sicht waren sogenannte Karner-Kapellen weit verbreitet, d. h. auf Friedhöfen freistehende, doppelgeschossige Gebäude deren Untergeschoss mit eigenem Eingang als Lagerraum für Totengebeine diente (Karner / Beinhaus), während das Obergeschoss ebenfalls mit eigenem Zugang als Kapelle mit Altar für gottesdienstliche Zwecke genutzt wurde. Mit dieser Definition lautet die korrekte Benennung für das Alsfelder Bauwerk also Karner-Kapelle. Eine interessante bauzeitliche Differenzierung betrifft die Frage, wie tief ein Untergeschoss in den Boden eingesenkt ist: Zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert in der Regel fast vollständig vertieft, ragt das Karner-Untergeschoss nach 1410 zur Hälfte über das umliegende Gelände hinaus. Dies trifft auch auf Alsfeld zu.

Nach Ausbreitung über weite Gebiete Europas, kam es parallel schon im 14. und 15. Jahrhundert aus hygienischen und räumlichen Gründen zu Friedhofs-Neuanlagen außerhalb der Städte. Mit der Reformation verloren dann die meisten Karner-Kapellen stark an Bedeutung, wurden abgerissen oder einer anderen Verwendung zugeführt.

Urkundliche Überlieferungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert

Ablassbriefe sowie Mess- und Altarstiftungen zählen zu den wichtigen Überlieferungen dieser Epoche, da sie oft nebenbei Informationen zu anderen Sachverhalten offenbaren. So enthält der eingangs erwähnte Ablassbrief vom 30. Mai 1368, der anlässlich der Errichtung eines neuen Nebenaltars in der Walpurgiskirche verfasst und von Fritz Herrmann 1902 erstmals veröffentlicht worden war, den bisher frühesten Hinweis auf die Existenz eines Aufbewahrungsortes für ausgegrabene Totengebeine im Bereich des Kirchhofs um die Walpurgiskirche.

Abbildung 2: Die Urkunde von 1368
Repro: Norbert Hansen

In der gut erhaltenen, auf Pergament mit Siegel geschriebenen Urkunde [Abb. 2] ist allerdings nur von einem „Ort“ (locus) die Rede, „an [genauer: in] welchem die Gebeine der auf dem genannten Friedhof begrabenen Gläubigen niedergelegt und aufbewahrt werden.“ Herrmann geht davon aus – und nach ihm ebenso die spätere Literatur –, dass dieser Ort ein Vorläuferbauwerk des 1510 errichteten Gebäudes war, das entweder an der heutigen Stelle oder in der Nähe auf dem Friedhof gestanden hat. Die Urkunde sagt darüber und über einen Erbauungszeitpunkt nichts aus, genauso wie offen bleibt, ob zu diesem ersten Aufbewahrungsort für ausgegrabene Totengebeine bereits eine Kapelle gehörte, d.h. gab es eine Karner-Kapelle oder vielleicht nur eine Gruft?

An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber noch eine Urkunde vom 7. Juni 1444 erwähnt. Darin hatte Johan Fryling von Rotsmann eine ursprünglich der sente annen in der crofft zu Alsfelt zugedachte Altarstiftung schließlich der Kirche in Eudorf zugesprochen. Einen der Hl. Anna geweihten Altar gab es bereits seit 1371 in der Walpurgiskirche; er stand in der Sakristei, der sogenannten Gerbkammer. Die Formulierung in der crofft war nun für E. E. Becker der Anlass zu fragen, ob es sich hier möglicherweise um den Altar im Beinhaus gehandelt hat, über den man ja so wenig wüsste.

Ein nächster, interessanter Beinhaus-Beleg findet sich erst wieder am Ende des 15. Jahrhunderts. Es ist wiederum eine der zahlreichen Stiftungen dieser Epoche, diesmal der Kirche und dem Gottesdienst gewidmet. Der Priester Johann Kype, Vikar am Dom zu Frankfurt, aber aus Alsfeld gebürtig, hatte vor seinem Tod 1467 genaue Anweisungen erteilt, wie nach Abschluss von Seelenmessen und Erteilung des Segens weiter zu verfahren sei: Der Pfarrer und die anderen Priester, der Schulmeister, der 2. Schulmeister und der Opfermann sollten in einer Prozession unter Gesang zum Beinhaus ziehen. Diese Urkunde vom 29. September 1499 belegt erstmals die Verwendung und Schreibweise des Wortes beynhuß. Damit ist die Existenz eines entsprechenden Gebäudes bewiesen. Wo sein Standort war, bleibt offen.

Eigentümer, Nutzung und bauliche Veränderungen in den letzten 400 Jahren

Mit der Reformation verlor sich der Brauch, die beim Aushub eines neuen Grabes noch vorgefundenen alten Gebeine in einem separaten Gebäude aufzubewahren. In Alsfeld dürfte sich die frühere Raumnot um die Walpurgiskirche schon vorher entspannt haben, nachdem bereits nach 1365 auf dem außerhalb liegenden Frauenberg eine neue Begräbnisstätte mit Kapelle angelegt worden war. Bis wann der Kirchplatz noch als Friedhof genutzt wurde und ausgegrabene Gebeine ins Beinhaus kamen, ist nicht bekannt. Dr. Herbert Jäkel sah diesen Zeitpunkt spätestens um 1600. W. Diehl kam zu einer anderen Beurteilung: „Es ist ganz undenkbar, dass nach der Durchführung der Reformation in lutherischen oder reformierten Orten unserer Gegend Beinhäuser noch belegt wurden. Die Totenbeine, die in ihnen lagerten oder (in Oppenheim) noch lagern, stammen aus der Zeit des Mittelalters.“ In vielen hessischen Gemeinden hätte man deshalb eine Umnutzung als Schulraum oder Bibliothek, teilweise auch den Abriss ganzer Beinhäuser beschlossen.

Abbildung 3: Die steinerne Außenkanzel an der Friedhofskapelle auf dem Frauenberg
Foto: Norbert Hansen

Auch in Alsfeld wird deshalb die kirchliche Nutzung der Kapelle – erst 1510 in voller Ausstattung erstellt – einige Jahrzehnte später beendet gewesen sein; galt die Stadt doch als „die erste Hessenlandes, welche das wahre Evangelium angenommen.“ Nachweislich seit dem 17. Jahrhundert diente dieser Raum im Obergeschoss für lange Zeit als Darre zum Trocknen des Malzes für das von 1569-1575 errichtete städtische Brauhaus, das sich in der Nähe des heutigen Schwälmer Brunnens befand. Möglicherweise ist die geänderte Nutzung an dem Jahr 1610 festzumachen, als ein steinerner Predigtstuhl, der als Außenkanzel „vor der also genannten Darre auf der steinern Treppen“ gestanden haben soll, abgebrochen und an die Friedhofskapelle auf dem Frauenberg versetzt worden ist. [Abb. 3] Die an der Unterseite der Konsole erkennbaren Vertiefungen lassen aber eine andere Positionierung an der Kirchplatzfront des Beinhauses wahrscheinlicher erscheinen: Die gesamte Kanzel ruhte auf einer Säule und war in die Außenmauer der Kapelle eingelassen, so dass ein direkter Zugang aus dem Kapellenraum möglich war. Hierzu muss es eine entsprechende Maueröffnung gegeben haben, die sich zwischen Eingangsportal und dem großen östlichen Fenster befunden haben kann. Denn hier zeichnet sich – auf allen alten Fotos der unverputzten Außenmauer erkennbar – der Verlauf einer Trennlinie / Störung im Mauerwerk ab. Sollte diese Annahme zutreffen, könnte die spätgotische Fassade des Beinhauses gemäß abgebildeter Rekonstruktion [Abb. 4] ausgesehen haben.

Abbildung 4 (Copyright angefragt)

Dies war wohl auch die erste Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes der ehemaligen Karner-Kapelle. Ansonsten blieb die architektonische Gestaltung der Kirchplatzfront über etwa 300 Jahre erhalten, wie ein nach 1876, aber vor 1907 aufgenommenes Foto zeigt. [Abb. 5] Das Maßwerk der frontseitigen Fenster ist ausgebrochen, die Fassade zeigt Reste einer spätmittelalterlichen Verputzung und die südöstliche Chormauer ist fensterlos.

Abbildung 5: Ältestes Foto vom Beinhaus (nach 1876, aber vor 1907)
Foto: Jahresbericht Denkmalpflege 1912, Tafel XXXI
Repro: Rudi Kaus

In den städtischen Dokumenten des 18. Jahrhunderts findet die „Malzdarre“ oder auch „Darre“, wie das frühere Beinhaus jetzt allgemein genannt wird, nur einmal besondere Erwähnung. Als 1784 die Regierung in Darmstadt vom Stadtrat eine Aufstellung über Anzahl, Nutzung und Bewertung der städtischen Gebäude forderte, lautete die Antwort zum Beinhaus: „[…] befindet sich unter der Malz-Dörre ein sehr geräumlicher bequemer und gewölbter Keller, dieser ist mit einigen Wagen voll Toden Knochen angefüllt; und wenn solche weggeräumt und an einen schiclichen Ort begraben, könnte derselbe, wann auf dem Steinhaus eine Wohnung errichtet würde, an einen andern Weinhändler […] verliehen werden.“

40 Jahre später rückt dann dieser Gewölbekeller durch ein anderes Ereignis in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Alsfelder Bürger, die im September 1824 im Auftrag des Stadtrats die noch vorhandenen Gebeine aus dem Gewölbe entfernen sollen, entdecken unter den Knochen einen Topf mit 18 Golddukaten und verheimlichen zunächst den Fund. Dieser Vorfall, dem sogar ein gerichtliches Nachspiel folgt, ist aber für die Beinhaus-Geschichte aus einem anderen Grund bemerkenswert, wie aus bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen der Stadtrechnungen dieses Jahres hervorgeht: Zunächst werden „dem Johannes Ettling und acht Consorten für das Ausräumen der im Keller unter der Malsdarre befindlich gewesenen Menschengebeine und deren Verscharrung auf dem Todtenhof, welche Arbeit größtentheils bey Nacht verrichtet werden müssen“, ein Tagelohn von zusammen 27,36 Gulden vergütet, dann erhält der „Lorenz Knierim für 14 Wagen voll Menschengebeine aus dem Keller unter der Malsdarre zur Nachtzeit auf den Todtenhof zu transportieren, im Septbr. 1824“ einen Fuhrlohn von 9,20 Gulden. Das Geld erhält Knierim allerdings erst fast ein Jahr später, nachdem Bürgermeister Bücking mit einer Notiz vom 12. August 1825 klarstellte: „Da diese Arbeit alle in der Nacht musste verrichtet werden, und sich Niemand dazu verstehen wollte, so wurde Herrn Knierim 40 kr [Kreuzer] je Wagen versprochen; es können ihm deshalb Neun Gulden Zwanzig dafür aus der Stadtkasse bezahlt werden.“

Weitere Zahlungen erfolgen an Gerhard Jacob Ramspeck jun. „für gelieferte fünf Körbe und ein Pfund Talglichter, bey Ausräumung der Menschengebeine im Keller unter der Malsdarre so zur Nachtzeit geschehen müssen“ und an den Stadtwirt Conrad Ploch „für abgelieferte Getränke an die Arbeiter, welche die Menschengebeine aus dem Keller unter der Malsdarre geräumt und auf dem Todtenhof verscharrt haben, am 2., 3., 4. und 6. Sept 1824.“ Auch hierzu verfasst der Bürgermeister erst am 14. März 1825 eine aufschlussreiche Begründung: „Da bei dieser Arbeit die Leute ohnmöglich ohne Brandwein die Arbeit verrichten konnten, so wurde ihnen einen Trunk zu zeiten gegeben.“

Nachdem so an 12 Tagen zwischen dem 30. August und dem 16. September durchschnittlich sechs Männer pro Tag gearbeitet hatten, kam es aus unbekannten Gründen zu einer Fortsetzung an weiteren 13 Tagen zwischen dem 29. November und 15. Dezember 1824. Vier Tagelöhner waren im Schnitt jeden dieser Tage damit beschäftigt, „Menschens Gebeine aus dem Keller der Malzdarre wegzubringen“, und „Arbeiten im Keller der Malzdarre und Todtenhof“ auszuführen. Man kann also annehmen, dass außer der schon erstaunlichen Menge von 14 Wagenladungen vom September in dieser zweiten Aktion weitere Knochenfuhren auf den Frauenberg erfolgten. Auf diesen Volumen Aspekt wird noch einzugehen sein.

Zahlreiche Reparaturrechnungen der folgenden 25 Jahre belegen auch die Bemühungen der Stadt, die Malzdarre-Einrichtungen funktionsfähig und das Gebäude instand zu halten. Hervorzuheben sind eine Neueindeckung des Daches in 1827 und die 1834 erfolgte „Herstellung des Kellers unter der Malsdarre zu einem Malskeller“. Hierzu waren „circa 600 Quadratfus Fläche zu ebnen mit Plättchen, welche von der Stadt theils aus dem Vorrath gestellt werden, in Speis zu belegen, die drey Seitenwände mit Sandspeis zu überziehen, die Treppe von den im Keller vorhandenen Sandsteinen neu aufzubauen und in die Mitte des Gewölbes ein Loch 3 Quadratfus weit zu brechen, um das Mals hinauf ziehen und auf die Darre bringen zu können.“

Doch wegen neuer Steuervorschriften und veränderter Trinkgewohnheiten gibt die Stadt bereits Ende der 1840er-Jahre ihr Braumonopol und das Brauhaus auf; 1850 werden Gebäude und Inventar öffentlich versteigert. Damit endet auch die über 200-jährige Geschichte der Malzdarre im Beinhaus.

Nach Jahren des Leerstands ist ab 1862 der Turnverein über längere Zeit nächster Nutzer des Kapellenraums. Während der Herbst- und Wintermonate finden hier die Übungsstunden statt. Dann trennt sich 1876 die Stadt von dem Gebäude. Dem neuen Besitzer „Jakob Lorsch Söhne dahier [werden] für die Malzdörre auf dem Kirchplatz […] 2.642 M., zahlbar in 2 gleichen Teilen […]“ berechnet. Ihm folgt als Eigentümer 1888 die Firma Gutkind Rothschild Söhne. Der ehemalige Kapellenraum wird – wie schon von Lorsch – als Lagerraum genutzt, und auch der Nachfolger ab 1896, der Glasermeister Ernst Tilemann Lenth aus dem Nebenhaus Kirchplatz 5, ändert da ran zunächst nichts.

Die späteren Umbaupläne des neuen Besitzers gefielen allerdings der Denkmalpflege gar nicht: „Als der Glasermeister Lenth 1907 eine Werkstatt mit Maschinenbetrieb einrichten und dabei den oberen Teil der Fenster zumauern, das Dach abtragen, die Umfassungsmauern mit Kniestockwänden erhöhen, den Dachstuhl wieder aufsetzen und die Außenwände verputzen wollte, regte der Denkmalpfleger Heinrich Walbe den Rückkauf durch die Stadt an, damit das Baudenkmal nicht vernichtet werde. Das scheiterte aber an den zu hohen Forderungen des Besitzers. So wurde eine Neugestaltung mit Mansarddach bei Unversehrtheit des Äußeren angestrebt.“

Abbildung 6: Ansicht um 1910
Foto: Jahresbericht Denkmalpflege 1912, Tafel XXXI

Alle offenbar zugemauerten Fenster auf der Nordseite und im Chorpolygon waren „neu zu brechen“, und aus dem Saal führte eine Tür mit außenliegender Treppe auf die Kaplaneigasse. Auf einer um 1910 entstandenen Aufnahme erkennt man das weiße Firmenschild über dem Eingang. Vor dem Gebäude lagern große Mengen Baumaterial. [Abb. 6]

In einem Punkte hatte sich der Denkmalsrat-Ausschuss aber doch durchgesetzt: Mit Beschluss des Großherzoglichen Ministerium des Innern vom 29. Mai 1908 wurde Lenths Beschwerde „gegen den Eintrag des sog. Beinhauses hinter der Walpurgiskirche […] in die Denkmalliste […] als unbegründet verworfen.“ In der Entscheidung heißt es u. a.: „Da das Beinhaus inmitten einer noch unversehrten Reihe schöner alter Häuser am Kirchplatz steht, verdient es außerdem auch wegen des stimmungsvollen einheitlichen Bildes, das dieser Platz zeigt, erhalten zu werden. Es ist hiernach wegen seiner Bedeutung für die Kunstgeschichte und die Ortsgeschichte von Alsfeld als Baudenkmal im Sinne des Art. 1 des Denkmalschutzgesetzes anzusehen.“

In den Jahrzehnten nach 1907 wird also das untere des jetzt zweigeschossigen Gebäudes als Fertigungsstätte genutzt. Im oberen waren Ende der 1950er-Jahre sogar zeitweilig zwei Räume für den Unterricht angehender Tischler, Schreiner und Raumausstatter der ehemaligen Handwerkerfachschule belegt; das Praktikum fand eine Etage tiefer statt. Allerdings fehlen aus all den Jahren Informationen darüber, was mit den Gewölbekeller geschah. Nur 1928 gab es dort bauliche Eingriffe durch einen Abwasseranschluss an die Kanalisation in der Kaplaneigasse sowie eine Veränderung aller Fenster auf der Nordseite.

Schließlich kaufte mit Wirkung vom 1. Januar 1963 die Stadt das Beinhaus von der Familie Lenth zurück. Der Verkäuferin Tilly Lenth wurde zugesichert, „daß der an dem Gebäude angebrachte Ausleger mit der Beschriftung Glaserei Lenth Zeit ihres Lebens an dem Beinhaus verbleibt“.

Danach tat sich zunächst am Äußeren des Gebäudes jahrelang nichts; über den zukünftigen Verwendungszweck war noch nicht entschieden worden. Allerdings gab es immer wieder Beschwerden, dass wegen des schadhaften Daches „bei starkem Regen das Wasser in die Steinmauer laufe, wodurch bei Frostgefahr erhebliche Schäden entstehen könnten.“

Dass letztlich die Stadt mit einer grundlegenden Sanierung auch eine sinnvolle Nutzung für das Baudenkmal fand, ist hochgradig Verdienst des damaligen Stadtarchivars Dr. Herbert Jäkel, der im Schreiben vom 10. Dezember 1975 an Bürgermeister Lipphardt darum bittet, „den Ausbau des Beinhauses zum Stadtarchiv im kommenden Jahr in die kommunalen Planungen und Durchführungsmaßnahmen aufzunehmen. […] Das Gebäude befindet sich ohnehin einem schlechten Zustand.“

Abbildung 7: Zustand vor Umbau 1977
Foto: Rudi Kaus

Das Beinhaus machte tatsächlich einen verwahrlosten Eindruck [Abb. 7], als die Stadtverordneten am 21. Oktober 1977 den Umbau zum Archiv beschlossen und damit dem denkmalgeschützten Gebäude endlich eine angemessene Zukunftsperspektive eröffneten. Denn zuvor hatte es schon eine Verwendungsidee gegeben: Bei den Planungen ab 1967 zur Altstadtsanierung stand auch die Überlegung im Raum, die Stadtbücherei ins Beinhaus zu verlegen.

So wurde 1979 zielgerichtet der Rückbau des Gebäudes mit dem Abtragen des 1907 von Lenth aufgesetzten Obergeschosses begonnen. Zuvor war das Erdgeschoss, in dem u. a. „altes Kirchengestühl aus der Walpurgiskirche“ lagerte, geräumt worden. Ein neues Steildach mit einem Dachreiter, der wegen seiner historischen Relevanz heftig umstrittenen war, sollte eine Annäherung an die ursprüngliche gotische Ausführung darstellen. Dass das Bruchsteinmauerwerk der Außenwände nicht als Sichtmauerwerk saniert und erhalten wurde, sondern aus Kostengründen einen Putz bekam, war Ergebnis einer knappen Mehrheitsentscheidung im Magistrat.

Im Innern entfiel die alte Fachwerkkonstruktion zugunsten einer zweckgebundenen Regallagereinrichtung über drei Etagen für das schließlich am 12. August 1983 eingeweihte neue Stadtarchiv. Von der früheren Innenkonstruktion wurde lediglich eine oktogonale Holzsäule auf quadratischem Sockel im Archivraum belassen; sie hatte ursprünglich an einer anderen Stelle im Gebäude gestanden, war aber jetzt aus statischen Gründen eigentlich nicht mehr erforderlich.

Im Gewölbekeller, bis dahin über Jahrhunderte im Wesentlichen unverändert, geschah erstmals ein größerer Eingriff, der zunächst noch 1978 vom Landesamt für Denkmalpflege gerügt worden war: „Das Ausweisen des Kellergeschosses zum Lager- und Heizraum widerspricht dem Charakter und der ursprünglichen Nutzung des Raumes als Karner.“ Man hatte sich dann aber wenigsten dazu entschieden, den historischen, frontseitigen Abstieg in den Keller zu belassen und nicht – wie zunächst geplant – parallel zur Südmauer zu verlegen. Auch das wohl erst aus dem 20. Jahrhundert stammende Pflaster im restlichen Keller sollte unangetastet bleiben. Desgleichen muss man heute froh sein, dass der Plan, Erdgeschoss und Keller im Gebäudeinnern durch eine Treppe zu verbinden, fallen gelassen wurde, ebenso wie die Überlegung, im Keller eine städtische Toilettenanlage einzubauen! Nach Ortsbesichtigung durch den Magistrat war diese Idee sofort verworfen worden.

Bauarchäologische Untersuchung von 1978

Im Vorfeld der 1977 beschlossenen Umbau- und Restaurierungsmaßnahmen der ehemaligen Glaserei Lenth hatte die Stadt Alsfeld in Einvernehmen mit dem Landesamt für Denkmalpflege Marburg eine bauarchäologischen Untersuchung des Beinhauses in Auftrag gegeben; sie wurde im November 1978 von der Marburger Arbeitsgruppe für Bauforschung und Dokumentation durchgeführt. Mit Blick auf die anstehende Sanierung sollten lediglich relevante Details schwerpunktartig aufgenommen werden. Archäologische Bodenuntersuchungen fanden nicht statt.

Neben einer Fotodokumentation des Ist-Zustandes wurden Zeichnungen der steingerecht vermessenen südlichen Maßwerkfenster und des Eingangsportals erstellt, um die spätere Restaurierung zu ermöglichen. Auf der Ostseite des Polygons entdeckte man ein wohl schon im 19. Jahrhundert zugemauertes, 1908 neu gebrochenes, danach aber erneut zugemauertes Fenster wieder. Dieser Teil des Innenraumes war durch einen früheren Brand stark geschwärzt. Als älteste feststellbare Farbfassung kam eine weiße Tünche mit streifenförmigem rotem Rahmen um die Chorfenster zum Vorschein.

Der äußere Treppenaufgang zum Eingangsportal scheint jüngeren Datums zu sein oder ist stark verändert worden; möglicherweise geschah dies mit Entfernung der Außenkanzel 1610. Der alte Kellerzugang an der Südseite war durch eine Platte verschlossen; der aktuelle Eingang ins Untergeschoss lag an der Nordseite (Kaplaneigasse) unter dem östlichen Fenster.

Aus dem unterbrochenen Sockel des Chores und einem vor die Mauerflucht des Obergeschosses vorspringenden, fundamentartigen Mauerzugs auf der Nordseite wurde die Annahme abgeleitet, dass das Beinhaus in zwei Bauphasen entstanden ist: Der dreiseitige Chor mit Sockel und aufgehendem Mauerwerk als ältestes Bauteil, und der 1510 fertig gestellte Saal (Obergeschoss) mit dem Gewölbekeller (Untergeschoss) als zweiter Bauabschnitt. Zur Untermauerung dieser – auf Indizien beruhenden Annahme – empfahlen die Verfasser, Suchschnitte an der südlichen Ecke zwischen Chor und Saal sowie im Untergeschoss zwischen östlicher Schildwand des Gewölbes und der Chorostwand anzulegen.

Doch niemand griff diese Vorschläge auf. Dabei hatte während der Restaurierung die einmalige Gelegenheit bestanden, mit relativ geringem Aufwand der Baugeschichte des Beinhauses im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund zu gehen, als 1980 zu Sanierungszwecken Teilbereiche der Mauerfundamente im Chorbereich freigegraben waren.

Neue Untersuchungen und Erkenntnisse zur Baugeschichte

Der offenbar unveröffentlichte Untersuchungsbericht von 1978 – erst 2017 zufällig im Stadtarchiv wiederentdeckt – rückte die noch immer offene Frage erneut ins Blickfeld: Findet sich ein Nachweis für ein Vorgänger-Beinhaus oder für den in der Urkunde von 1368 erwähnten locus = Ort, wo schon vor 650 Jahren ausgegrabene Totengebeine gelagert wurden? Wenn ja, wo stand dieser Karner?

Knochenfund im Untergrund des Chorpolygons

Abbildung 8: Blick auf die östliche Schildmauer des Gewölbekellers
Foto: Norbert Hansen

Unerwartete Anregung fand diese Fragestellung im Mai 2017 durch den Zufallsfund zweier menschlicher Knochenfragmente, die bei der Untersuchung des alten Mauerausbruchs in der östlichen Schildmauer des Gewölbekellers von dem dahinterliegenden unbekannten Erdreich in die Maueröffnung gerutscht waren. [Abb. 8] Was zunächst aussah wie erdbehaftete Scherben, erwies sich als zwei zusammengehörige Stücke einer menschlichen Schädeldecke. Wie alt waren die Knochen? Woher stammen sie? Wie und wann sind sie in den eigentlich seit über 500 Jahren verschlossenen Untergrund des Chorpolygons gelangt?

Nun waren Knochenfunde im Beinhaus schon in der Vergangenheit nichts Außergewöhnliches. Aber mit Blick auf die „Vorgängerbau“-Thematik gab der erklärungsbedürftige Fund jetzt Veranlassung zu tiefergehender Analyse. Eine Altersbestimmung nach dem C14-Verfahren im Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie gGmbH in Mannheim führte zu dem Ergebnis, dass die Schädelfragmente zu einem erwachsenen Menschen unbekannten Geschlechts gehörten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit (rd. 65 %) im Jahre 1365 verstorben ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (rd. 95 %) aber zwischen 1365 und 1415.

Die Ruhezeit in seinem Grab auf dem Kirchhof (Friedhof) an der Walpurgiskirche wird höchstens 20 Jahre betragen haben, bei dem damaligen Platzmangel vielleicht auch deutlich kürzer, so dass das exhumierte Skelett bzw. der Schädel mit hoher Wahrscheinlichkeit schon vor 1385 in einen Karner gelangt sein konnte. Später kann der zunächst wohl intakte Schädel durch Umlagerung oder andere Gewalteinwirkung zerbrochen sein. Aber wie ist der Fundort der Fragmente hinter der Schildmauer zu erklären?

Da durch die aufgehenden Fundamentmauern des Chorpolygons und durch die östliche Schildmauer ein nicht nutzbarer Hohlraum entstanden war, können dort Abfallmaterialien aller Art einschließlich Knochenreste verfüllt worden sein. Vielleicht geschah dies um 1510, möglicherweise auch noch danach. Letztmalig kann dieser Bereich während der Umbaumaßnahmen 1979-1982 von oben offen gewesen sein, wieder eine verpasste Gelegenheit, das innere Mauerwerk und den Untergrund des Chors genauer zu erkunden. Immerhin kann der Knochenfund als Indiz gelten, dass der ursprünglich komplette Schädel aus einem aufgelassenen Grab des Walpurgiskirchen-Friedhofs in der zweiten Hälfte oder gegen Ende des 14. Jahrhunderts im Untergrundbereich eines Gebäudes abgelegt worden war, das sich im Friedhofsbereich oder sogar dort befand, wo 1510 etwas Neues entstand. Nach dem Zerbrechen können Reste wie zuvor beschrieben „entsorgt“ worden sein. Dass Knochenreste – vielleicht zusammen mit anderem Material – von außerhalb, d. h. von einem anderen Lager- oder Grabungsort, als „Verfüllmaterial“ in das Beinhaus verbracht worden sind, kann allerdings auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Erneute Analyse der Gebäudeentstehung

Es lag also nahe zu überprüfen, ob im Baubestand von 1510 Spuren älterer, mittelalterlicher Strukturen tatsächlich nachweisbar sind, wie 1978 vermutet worden war. Begründet wurde dieses Vorhaben mit dem zwischenzeitlich fortgeschrittenen Kenntnisstand zur historischen Entwicklung von Mauerwerksstrukturen, Steinmetztechniken und architektonischen Gliederungselementen wie Fenster und Portale. In die Aufgabe eingeschlossen war insbesondere eine Aussage zur Entstehungsgeschichte des Gewölbeuntergeschosses, das seinerzeit nicht betrachtet worden war.

Mit Unterstützung durch das Landesamt für Denkmalpflege Hessen Abt. Archäologie, Außenstelle Marburg, führte der ausgewiesene Fachmann Elmar Altwasser vom „Freien Institut für Bauforschung und Dokumentation e.V. Marburg (IBD)“ am 22. August 2017 die Analyse durch. Befunderhebungen an den äußeren Mauerflächen waren wegen des nach 1978 aufgebrachten Putzes nicht mehr möglich und deshalb auf die verbliebenen freisichtigen Eckverquaderungen sowie die architektonischen Gliederungselemente der Südfassade beschränkt.

Die wichtigsten, teils neuen Erkenntnisse der auf zahlreichen Detailbewertungen basierenden Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Entgegen der „Zwei Bauphasen“-Annahme von 1978 bilden Chorpolygon und Saal mit Gewölbeuntergeschoss ein im Zusammenhang erstelltes Gebäude, das vielleicht schon Ende des 15. Jahrhunderts begonnen, aber ausweislich der Jahreszahl über dem Eingangsportal wohl 1510 vollendet wurde. Ein zwischen zweiter und dritter Ziffer eingemeißeltes Steinmetzzeichen, das dem Charakter der Zeichen am Rathaussockel von 1512 ähnelt, wurde jetzt erstmals dokumentiert. [Abb. 9]

Abbildung 9: Jahreszahl 1510 mit Steinmetzzeichen über dem Eingangsportal
Foto: Elmar Altwasser (IBD)

Eine 1978 nicht erkannte feine, steil verlaufende Scharrierung auf der Werksteinoberfläche der Eckquaderung des Polygons ist in dieser Art erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts in Deutschland bekannt. Das Chormauerwerk kann deshalb nicht vor 1450 entstanden sein, höchstens innerhalb der Zeitspanne bis 1510, wahrscheinlicher aber erst zusammen mit dem westlich anschließenden Gebäude. Ein weiteres Steinmetzzeichen an der Nordostecke wird auf die 1430-1530 geschätzt, also passend zu der Gesamtbau-Entstehung.

Abbildung 10: Sockelvorsprung an der Südostecke mit näpfchenartigen Vertiefungen
Foto: Elmar Altwasser (IBD)

Der auf das Chorpolygon beschränkte Sockel – 1978 wesentlicher Ausgangspunkt für die Zwei-Phasen-Vermutung – erfährt jetzt eine neue Interpretation: Er bildet die äußere Akzentuierung des im Chorinneren befindlichen Altarraumes und hebt in „subtiler Hierarchisierung“ diesen Gebäudeteil gegenüber dem Umfeld hervor. Derartige Sockel, „die an ihrer Oberseite mit einer Fase oder einem andersartigen Profil in die aufgehende Bausubstanz überleiten“, finden sich seit dem frühen Mittelalter bei zahlreichen, auch ländlichen Sakralbauten. [Abb. 10]

Das rundbogige Tonnengewölbe im Untergeschoss charakterisiert Altwasser als „durchaus datierungsresistent“, weil solche Gewölbe schon seit der zweiten Hälfte des 13. bis in das 16. Jahrhundert vorkommen. Deshalb können Hinweise zur näheren Datierung oft nur „die Formen ihrer Zugänge und Kellerhälse“ liefern. Er stellt fest, dass die „spitzbogig geschlossenen Pforte“ an der Südseite als Kellerzugang eindeutig Teil des Gewölbemauerwerks ist bzw. der innere Kellerhals zeitgleich mit dem Gewölbe erbaut wurde. Zudem weisen „der Fugenschnitt und die einfache Kantenabfasung über einem Sockel“ auf den Entstehungszeitraum um 1500 von Pforte – und somit auch Tonnengewölbe – hin. In dem Spitzbogenportal des Kellerzugangs sieht Altwasser übrigens eine „Würdeform“, „die dem dahinter liegenden Tonnengewölbe einen besonderen Charakter verleiht“.

Abbildung 11: Das östliche Fenster an der Südfassade
Foto: Elmar Altwasser

Während für alle anderen Gliederungselemente der Südfassade spätgotische bzw. der Zeit um 1500 entsprechende architektonische Kriterien gefunden werden konnten, deutet die Maßwerkanalyse des großen östlichen Fensters auf eine frühere Entstehung hin. [Abb. 11] „Stilistisch gesehen handelt es sich hierbei, vor allem bezogen auf den großen Okulus im Scheitel des Sturzbogens, um eine Maßwerkform, die eher dem späten 13. oder dem 14. Jahrhundert zuzuordnen ist, nicht aber um eine explizit spätgotische Struktur, geschweige denn ein Maßwerk, wie es aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert bekannt ist.“ Altwasser vermutet, „stilistisch gesehen“, die Entstehung „am ehesten in der Mitte oder der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“; die Zeit um 1500 hält er für unwahrscheinlich.

Als mögliche Erklärung für „diese zeitliche Uneinheitlichkeit der architektonischen Gliederungselemente der Südfassade“ nimmt er an, „dass bei der Neuerrichtung der Beinhaus-Kapelle im Jahr 1510 das Fenster einer älteren, an deren Stelle ehemals vorhandenen Kapelle, gewissermaßen als eine Memoria, übernommen wurde und neben dem neuen Portal und dem ‚modernen‘ Fenster als Erinnerung an den älteren Bau dienen sollte. Ähnliche Übernahmen älterer Bauteile in Neubauten von Kirchen […] sind bei mittelalterlichen Kirchen des Öfteren nachzuweisen […].“

Bodenradarprospektion im Gewölbeuntergeschoss

Trotz dieser neu gewonnenen Erkenntnisse fehlte nach wie vor ein objektiver Nachweis für die Annahme, dass ein Vorgängergebäude unbekannter Bauart bereits an der Stelle des Beinhauses von 1510 gestanden hat. Das Landesamt für Denkmalpflege empfahl deshalb als nächsten Schritt, die Kellergrundfläche (abzüglich der Betonplatte unter dem Heizungs- und Lagerraum) mit Hilfe einer Bodenradarprospektion nach Auffälligkeiten im Untergrund abzusuchen. Dieses geophysikalische Verfahren arbeitet mit hochfrequenten elektromagnetischen Wellen, die in den Boden gesendet werden. Laufzeit und Amplitude der an unterirdischen Strukturen (z. B. Mauer- oder Fundamentreste) reflektierten Signale werden dann gemessen und ausgewertet. Die Untersuchung der Fa. Posselt & Zickgraf Prospektion GbR, Marburg fand am 22. Januar 2018 statt, indem der aus dem 20. Jahrhundert stammende Basaltpflasterboden in Messbahnen von jeweils 0,25 Metern Abstand in West-Ost- und Nord-Süd-Richtung abgefahren wurde. Als wichtigste Erkenntnis ergab sich, dass keine Strukturen nachgewiesen werden konnten, die eindeutig dem Grundriss oder der Fundamentierung eines Vorgängerbauwerks zuzuordnen wären.

Fundamentgrabung im Keller

Nach dieser wenig erkenntnisreichen Maßnahme sollte abschließend zumindest an einer Stelle eine Testgrabung angesetzt werden, um die tatsächliche Fundamenttiefe der Kellermauern zu ermitteln. Begrenzt auf eine Fläche von einem Quadratmeter erfolgte diese Grabung im Frühjahr 2018 in der Südostecke. Der Kellerboden liegt hier etwa 1,9 Meter unterhalb des kirchplatzseitigen Außenniveaus, annähernd waagerecht in der Nord-Süd-Achse, in der Ost-West-Richtung aber um ca. 3,5 Grad bis zur Treppe abfallend.

Abbildung 12: Reste das alten Malzkellerbodens von 1834
Foto: Norbert Hansen
Abbildung 13: Auswahl der gefundenen Knochen- und Keramikfragmente
Foto: Norbert Hansen

Nach Aufhebung des im 20. Jahrhundert eingebrachten Pflasters kamen in 18-20 cm Tiefe (Oberkante Pflaster = 0) zahlreiche Bruchstücke der 1834 in Sand und Speis verlegten rötlichen Tonplatten 14,5 x 14,5 x 3 cm zum Vorschein. [Abb. 12] Im Tiefenbereich 25-30 cm fanden sich verschiedene Knochenfragmente und Keramikbruchstücke. [Abb. 13] Ein 20-30 cm breiter Randstreifen vor der Ost- und Südmauer enthielt zunächst faustgroße, in tieferen Zonen größere Steine, zwischen denen Erde und bis in 70 cm Tiefe Knochen, Scherben, Holzkohle und Schieferstücke verteilt waren. Außerhalb dieser Streifen, also in der Nordwestecke des Grabungsquadrats, war bereits in knapp 40 cm Tiefe homogener, sehr fester Erde-/Lehmboden erreicht. Vermutlich handelt es sich hier um das Ursprungsniveau des gesamten Terrains vor Errichtung eines Gebäudes, wie die verschiedenen, im Abstand von wenigen Zentimetern darüber liegenden Laufhorizonte im Vertikalschnitt erkennen lassen. [Abb. 14]

Abbildung 14: Verschiedene Laufhorizonte im Vertikalschnitt
Foto: Norbert Hansen

Das bis zu einer maximalen Tiefe von 85 cm reichende und in einem Mörtelbett liegende Fundament weist keine signifikanten Unterschiede zum aufgehenden Mauerwerk auf; es gehört also zum Bauwerk von 1510. Somit sind Fundamentreste eines älteren Gebäudes an dieser Stelle nicht nachweisbar.

Bei den dicken- und höhenmäßig variierenden Laufhorizonten (helle Streifen) handelt es sich im untersten Bereich (38-40 cm) um Sedimentablagerungen aus früher Zeit. Im Tiefenbereich 30±5 cm wird das Bodenniveau von 1510 anzunehmen sein. Die in dieser Schicht geborgenen Funde lassen die Deutung zu, dass es sich um Reste / Bruchstücke von älteren Knochen und Keramiken handelt, die von einer hier befindlichen Lagerung im Erdreich verblieben sind. Da die Knochen schon eine unbekannte Zeit lang vorher in Gräbern gelegen haben, müssten sie mindestens aus dem 15. oder einem noch früheren Jahrhundert stammen. Von den Keramikscherben die in dieser Konzentration in einem Beinhaus eigentlich nicht zu erwarten waren, sind einige dem 15. Jahrhundert zuzuordnen. Die gleichen Funde in Tiefen bis 70 cm in den Streifen vor Ost- und Südfundament sind – wie die zahlreichen Steine – als „Verfüllmaterial“ von noch vorhandenen, früheren Bruchstücken für die Baugrube nach Erstellung der Fundamentmauern anzusehen.

Dendrochronologische Untersuchung der alten Mittelsäule

Der Innenraum der ehemaligen Beinhauskapelle war „mit einer geraden Decke geschlossen, deren Unterzug durch eine mit Bügen und Sattelholz versehene Stütze getragen wurde.“ Vermutlich bauzeitlich, aber bisher nicht überprüft, wurden jetzt zur Altersbestimmung zwei Bohrkerne aus dem Säulenfuß entnommen und dendrochronologisch untersucht. [Abb. 15] Danach handelt es sich um eine Eiche, die wahrscheinlich um 1510±5 Jahre gefällt worden ist. Dieses Ergebnis passt gut zum Fertigstellungsjahr des Gebäudes; die Säule ist damit das einzig verbliebene Bauteil des ursprünglichen Innenausbaus.

Abbildung 15: Fuß der 500 Jahre alten Holzsäule im Obergeschoss
Foto: Norbert Hansen

Zusammenfassende Bewertung der Thematik „Vorgängerstandort“

Wenn feststeht, dass es schon in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts im Friedhofsbereich der Walpurgiskirche eine Lagerstätte [locus] für aus Altgräbern geborgene Menschengebeine gab, so konnte weder durch eine Bodenradarprospektion und eine begrenzte Fundamentgrabung im Gewölbekeller noch durch eine bauarchäologische Analyse der Beleg erbracht werden, dass ein älteres Bauwerk unbekannter Größe und Bauart an der Stelle des mit 1510 gekennzeichneten Gebäudes gestanden hat.

Die zahlreichen Knochenfunde können natürlich ein Indiz für eine Vorgänger-Lagerstätte im Fundortbereich sein, schließen aber andere Möglichkeiten nicht aus. Folgt man nämlich der zitierten Ansicht von W. Diehl, der die weitere Belegung von Beinhäusern in Hessen nach der Reformation für „ganz undenkbar“ hielt und die später dort noch lagernden Gebeine dem Mittelalter zu ordnete, so sollte das auch für Alsfeld gelten. Die Stadt war frühzeitig zum neuen Glauben übergetreten und verfügte schon seit rund 150 Jahren über einen Ausweichfriedhof mit Totenkapelle. Es liegt also der Schluss nahe, dass ein hoher Anteil der Knochenmengen, die 1824 mit großem Aufwand aus dem Gewölbeuntergeschoss entfernt wurden, ebenfalls mindestens aus dem 15. oder einem noch früheren Jahrhundert, also vor Erbauung des heutigen Kellers, stammen muss. Dasselbe sollte auf die jetzt bei der Ausgrabung gefundenen Knochenfragmente zutreffen, zumal der auf 1365 datierte Erstlingsfund ein starkes Indiz für diese Annahme darstellt.

Ob aber jetziger Fundort und mittelalterlicher Lagerort identisch sind, führt zu einer eher praktischen Fragestellung: Der Bau des Kellergewölbes erfolgte ausweislich der an beiden Schildmauern erkennbaren Brettauflagen über einem hölzernen Lehrgerüst, das zunächst von der Ostwand bis hinter die Treppe reichte und dann – nach Fertigstellung des östlichen Gewölbeabschnittes – bis zum westlichen Kellerende weitergerückt wurde. Eine freie Bodenfläche zum Aufbau und zur Abstützung des Gerüstes war hierzu unbedingte Voraussetzung. Sollten hier aber schon größere Knochenmengen gelegen haben, wäre eine vorherige sorgfältige, d. h. pietätvolle Ausräumung, eine angemessene Zwischenlagerung an anderer Stelle und eine ordnungsgemäße Wiedereinbringung nach 1510 notwendig gewesen. Ist das eine realistische Annahme? Hatte man um 1500 einen solchen Aufwand bewusst in Kauf genommen? Falls nicht, muss sich die ältere Lagerstätte doch an einem anderen Ort im Friedhofsbereich befunden haben. Das Beinhaus von 1510 wäre also eine von Grund auf neu errichtete Karner-Kapelle gewesen, deren Untergeschoss zunächst mit einer gewissen Menge älterer Gebeine befüllt worden wäre.

Abschließend wäre noch zu erklären, wie das östliche Fenster der Beinhaus-Südfassade einzuordnen ist, das in der bauarchäologischen Analyse von 2017 auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wurde und somit nicht zur Bauzeit des Beinhauses passt. Wenn es kein Vorläuferbauwerk am Kirchplatz 6 gegeben hat, die Charakterisierung als übernommene „Memoria“ [Andenken, Erinnerung] aber plausibel erscheint, kann es sich nur um ein Bauteil handeln, das bei Abbruch oder Umbau eines sakralen Gebäudes an anderer Stelle der Stadt am Ende des 15. Jahrhunderts für wertig gehalten wurde, Teil eines neuen (Beinhaus-)Gebäudes zu werden. Hierzu fehlt aber bisher jeglicher Beleg. Somit bleibt auch 650 Jahre nach der ersten Information über eine frühe Lagerstätte für Totengebeine im Friedhofsbereich rund um die Walpurgiskirche die Frage nach Standort, Bauart und Größe unbeantwortet.

(Gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels aus den „Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld e.V., 117. Jahrgang, Heft 2 – Juni 2018. Aus Platzgründen musste das umfangreiche Quellenverzeichnis weggelassen werden. Es kann bei Bedarf gern vom Verfasser angefordert werden.)

Erstveröffentlichung:

Dr. Norbert Hansen, Zur Geschichte des Beinhauses in Alsfeld (2 Teile), in: Heimat-Chronik Alsfeld, 34. Jahrgang, 2018, Heft 11, S. 1-4. / Heimat-Chronik Alsfeld, 34. Jahrgang, 2018, Heft 12, S. 1-4.

Die Veröffentlichung des Textes im Rahmen des Internetprojekts www.Geschichtsforum-Alsfeld.de
wurde vom Autor, den Fotografinnen und Fotografen genehmigt.

Dr. Norbert Hansen

Zur Geschichte des Beinhauses in Alsfeld,  in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 117. Jahrgang, Heft 2, 2018, S. 3-39.

Nachtrag zur Geschichte des Beinhauses in Alsfeld, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 119. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 3-14.

Sie können die Mitteilungshefte bestellen beim

Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e.V.
Rittergasse 3-5, 36304 Alsfeld
Telefon: 06631-706950-12


[Stand: 30.03.2024]