Zur Baugeschichte der Walpurgiskirche

Von Paul Frankl (1902)

Es gibt zwei Wege, um das Alter und die Geschichte eines Bauwerks festzustellen. Entweder lässt man sich von Inschriften, Urkunden, Chroniken, also von geschriebener Überlieferung die Gründung, Vollendung, die späteren Veränderungen durch Um- und Anbauten, Beschädigungen und Renovationen erzählen, oder man sucht durch Vergleich mit anderen historisch schon festgestellten Bauten und Tatsachen Rückschlüsse zu ziehen. Der letztere Weg muss immer mitbenützt werden, um die Glaubwürdigkeit der geschriebenen Überlieferung zu kontrollieren; häufig wird er der einzig mögliche sein, da Inschriften und Urkunden oft ganz fehlen. In beiden Fällen aber muss die genaueste Kenntnis des Bauwerks selbst die Grundlage der historischen Untersuchung bilden. Denn, um die Inschriften nur auf diejenigen Teile zu beziehen, für die sie, ohne es ausführlich zu sagen, abgefasst waren, muss man vor allem dem Bauwerk selbst ablesen, ob es aus einem Guss, oder zu verschiedenen Bauzeiten, von verschiedenen Baumeistern errichtet ist, und über welche Partien sich je eine Bauführung erstreckt.

Überragend: Die Alsfelder Walpurgiskirche
(Bild ergänzend eingefügt) © GFA

Die Walpurgiskirche zu Alsfeld ist nicht in einem Zuge gebaut, sondern das Kompromiss ziemlich weit auseinanderliegender Bauzeiten. Der hoch das Langhaus überragende Chor, die auf den Rundpfeilern des Innern so unvermittelt aufsitzenden achteckigen Pfeiler lassen auch den Laien sofort auf verschiedene Hände schließen. Die Bestätigung bieten für die meisten Teile am Bau selbst die erwünschten Inschriften die in den vorausgehenden Mittheilungen teilweise schon erwähnt wurden.

Beim Chor-Eingang berichtet eine Inschrift von 1393 über den Baubeginn des Chores, mit dem die zweigeschossige Sakristei und die Wendeltreppe gleichzeitig ist. Die Anschlusswand des Chores gegen das Langhausdach enthält eine Inschrift, von der bisher [Seite-3] nur die Jahreszahl 1730, nicht aber der Text entziffert ist. Sie ist völlig übertüncht, kann aber bei der bevorstehenden Renovierung leicht vom Dachraum aus herausgenommen und gereinigt werden. Im Turmdurchgang berichtet eine Inschrift von 1394 über den Einsturz des alten Turmes und Neubau des jetzt noch größtenteils erhaltenen. Oberhalb der ersten Turmgalerie zählt eine Inschrift von 1836 alle am Umbau des obersten baufällig gewordenen Teiles beschäftigten Meister auf. Die Umrahmung der in den Turm führenden Türe trägt die Jahreszahl 1538. Im Langhaus findet sich am ersten Pfeiler links die Jahreszahl 1472.

Fraglich und durch Vergleich mit anderen Bauten zu bestimmen bleibt demnach der Baubeginn und das Aussehen des ursprünglichen Langhauses und wie dieses zu seiner jetzigen Gestalt gelangte. Annähernd ein Quadrat bildend, zerfällt es durch zwei Reihen von je 3 Rundpfeilern der Breite nach in drei ungleich breite Schiffe, der Länge nach in vier ungleich breite Joche. Die Rundpfeiler sind auffallend stark und kurz und von vier Diensten (dünnen Säulchen) begleitet, deren einer – der gegen das Mittelschiff – über das Kapitäl des Pfeilers hinaus an der darübersitzenden Mauer hinaufsteigt und auf seinem besonderen Kapitäl die Rippen des Kreuzgewölbes auffängt. Die Gewölbe der drei Schiffe sind alle gleich hoch, d.h. die jetzige Kirche ist eine Hallenanlage. Aber jene kurzen Rundpfeiler mit ihren drei ebenso kurzen und dem einen viel längeren Dienst weisen auf einen ursprünglich anderen Zustand, auf eine vorausgegangene basilikale Anlage; d.h. die Seitenschiffe waren niedriger als das Mittelschiff, so dass dieses weit über Gewölbe und Dächer der Seitenschiffe hinausragte und eigene Fenster erhalten konnte. Zwei von diesen sind teilweise erhalten, nämlich die des zweiten Joches. Ein Rest ihres alten Maßwerks besitzt Falze für Verglasung, wodurch sichergestellt ist, dass hier ein ins Freie blickendes Fenster, nicht etwa eine bloße Dekoration vorhanden war. Wie niedrig die Seitenschiff waren, kann ebenfalls noch festgestellt werden, da ihre Gewölbe auf den erhaltenen Rundpfeilern und ihren Diensten aufsitzen mussten. Hierbei entsprach den [Seite-4] gegen das Seitenschiff gestellten Diensten je ein solcher an der gegenüberliegenden Seitenschiffwand, und im rechten Schiff sind diese Wanddienste noch sämtlich erhalten; im linken fehlen sie, und hier sind obendrein die Pfeilerdienste, denen sie entsprechen sollten, abgebrochen worden. (Nur das Fußglied blieb durchweg stehen). Durch diesen Umstand wird der Schluss nahegelegt, dass in der alten Basilika-Anlage das linke Seitenschiff schmäler war als das jetzt vorhandene und zwar ebenso schmal wie das rechte, das ja, von den Gewölben abgesehen, unversehrt erhalten ist. Die Erweiterung durch Hinausschieben der Außenwand ist wohl einem späteren Umbau zuzuschreiben.

So lässt sich das frühere Aussehen des Langhauses vollständig und unzweideutig rekonstruieren, und das Bild, das sich ergibt, hat die größte Ähnlichkeit mit der wohlerhaltenen Kirche zu Geisnidda. (Eine Abbildung dieser Basilica findet sich in: Kunstdenkmäler im Großherzogtum Hessen, Kreis Büdingen, S. 137 ff. – besonders der Längsschnitt S. 139). Beide Kirchen zeigen in ihren Rundpfeilern, Diensten, Füßen und Kapitälen übereinstimmend den frühgotischen Formencharakter, der allen hessischen Kirchen der Marburger Bauschule gemeinsam ist.

Die Vermittler des gotischen Stiles waren für Hessen, wie für so viele andere Landschaften, die Zisterzienser, die aus Frankreich stammend durch besondere Ordenssatzungen mit dem Mutterlande in ununterbrochener Beziehung blieben und alle in Frankreich gemachten konstruktiven Errungenschaften des Kreuzrippengewölbebaues bei ihren Neuanlagen von Klöstern im Auslande anwandten und so zu Lehrmeistern der umliegenden Gegend wurden. Die nordfranzösische Bauschule war damals (1140) allen anderen Bauschulen Europas voraus. Auf ihre konstruktiven Fortschritte stolz, machte sie das Veranschaulichen und Zeigen der inneren Kräfte durch die Bauformen zum künstlerischen Prinzip, steigerte den Eindruck dieser Kräfte durch Vortäuschen viel größerer Kräfte, als tatsächlich vorhanden oder nötig waren und durch Fortlassen oder wenigstens Reduzieren aller nur füllen den Mauerteile. Diese Auflösung des Gebäudes in [Seite-5] ein System sichtbarer Kräfte brachte in der Zeit von 1140-1220 etwa an einer Reihe von Kathedralbauten nordfranzösischer nahe benachbarter Städte eine ungemein reiche, in sich geschlossene Welt von Formen hervor, die später als gotischer Stil bezeichnet wurde. Von Nordfrankreich verbreitete sich die Gotik nach allen Richtungen, nach England, Südfrankreich, dann auch östlich ins Rheingebiet.

Die frühesten Bestrebungen, konsequent gotisch zu bauen, zeigen in Deutschland die Liebfrauenkirche Trier 1227 und die Zisterzienser Klosterkirche zu Haina 1229. Von diesen beiden Bauten lernte der Meister der Elisabethkirche zu Marburg, die 1235 begonnen wurde. Sie ist eine dreischiffige Hallenkirche, hat die charakteristischen Rundpfeiler mit den vier Diensten so wie Trier und Haina und ist zu einer Zeit, da im Herzen Frankreichs die Gotik schon zur vollsten Reife entfaltet war, in noch jugendlichen Formen der Gotik, der sogenannten deutschen Frühgotik, gehalten. Für die nächstfolgende Kirchenbautätigkeit Hessens blieb sie Vorbild und Schulhaupt, da an ihr noch Jahrzehnte lang gebaut wurde.

In die unmittelbar folgenden Jahre, welche die Marburger Kirche emporwachsen sahen, müssen die Langhausbauten von Geisnidda und Alsfeld fallen, die aber vom großen Weltverkehr abseits liegend konservativ an der in Hessen bisher einheimischen basilikalen Anlage festhielten. Sie fallen wohl in die Jahre 1240 bis 1245. Für diese ganz frühe Zeit spricht das Festhalten an den Proportionen des romanischen Stils, an der älteren Gefühlsweise, das energische Vortreten der Dienste und die Überlegung, dass in den späteren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, da rings um Alsfeld schon eine Reihe gotischer Hallenkirchen im Bau waren, man sich auch hier wahrscheinlich dem in Mode gekommenen Hallensystem angeschlossen hätte. Denn in die Zeit von 1250 fällt die Kirche zu Wetter, in die nächstfolgende die zu Wetzlar, dann seit ca. 1260 der Chor-Neubau von Friedberg, seit 1272 die Kirche zu Grünberg (die 1841 abgetragen und durch einen sehr nüchternen Bau ersetzt wurde), seit 1286 die Kirche zu Frankenberg, seit 1306 der Neubau des Langhauses von [Seite-6] Friedberg als Hallenanlage, das bis dahin romanische Basilika gewesen war (vgl. die Festschrift zur Wiederherstellung dieser Kirche 1901). Dieser Bau zog sich das ganze Jahrhundert hin (bis 1410) und mochte wohl in dem nahen Alsfeld einen eifersüchtigen Baueifer erregen, der dort zu dem Entschlusse reifte, die ganze so wie so nicht sehr geräumige Kirche, die den künstlerischen Ansprüchen dieser Generation nicht mehr entsprach, abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen. Von diesem kam 1393 der einschiffige, hoch gestreckte Chor zu Stande. Da erfolgte 1394 unvermutet der Einsturz des Turmes, der nun zuerst neugebaut werden musste. Er verschlang wohl die Mittel, die dem Neubau des Langhauses zugedacht waren. Vielleicht kamen noch andere Gründe hinzu, jedenfalls blieb vorderhand das Langhaus als niedrige Basilika zwischen dem hohen Turm und dem hohen Chor unverändert liegen, ein Symbol des erschlafften Baueifers. Erst anderthalb Jahrhunderte später muss sich der Raummangel derart fühlbar gemacht haben, dass zu einem Umbau des Langhauses geschritten wurde. Das Ergebnis dieses Umbaues haben wir heute noch vor uns.

Aber es bleibt im hohen Grade interessant, was aus der Kirche geworden wäre, hätte kein ungünstiges Geschick ihren völligen Neubau verhindert. Die Absicht, außer dem Chor auch das Langhaus neu zu bauen, beweisen die Verzahnungen der jetzt frei herausragenden Chormauern. Sie nötigen zu der Überzeugung, dass das Mittelschiff zur selben Höhe aufgeführt werden sollte, wie der Chor. Die Firstlinie des Daches sollte bis zum Turm durchgehen; daher ist die Abschluss wand des Chordaches gegen das Langhaus nur provisorisch als Fachwerk gebaut. Nun bleibt die Frage, ob auch die Seitenschiffe dieselbe Höhe erhalten sollten. War der Neubau als Basilika oder als Hallenkirche projektiert? Eine ganz einwandlose Beweisführung, dass er als Halle gedacht war, lässt sich nicht geben, aber die größte Wahrscheinlichkeit spricht dafür, und nicht nur die damalige Beliebtheit dieser Kirchenform unterstützt die Annahme. – Denkt man sich die Chormauern in ihrer eigenen Richtung fortgesetzt, so trifft die rechte nicht in die Ebene der Rundpfeiler. Diese hätten aber [Seite-7] die Träger der Oberwand bei einer Basilika-Anlage werden müssen. Also hätte der Baumeister vorgehabt, entweder die Rundpfeiler mehr nach links gegen die Mitte zu verschieben oder an der rechten Chorseite einen unangenehmen Vorsprung zu machen. Beides ist unwahrscheinlich. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass die Verzahnung stehen blieb, um den Anschluss einer senkrecht dagegen stoßenden Mauer – der kurzen Abschlussmauer des Seitenschiffes zu ermöglichen. Sollte diese Seitenschiffmauer so hoch werden wie die Chormauer, so ist die Absicht einer Hallenkirche von durchweg gleicher Höhe wie der Chor sicher.

Von alledem haben die Nachkommen von ca. 1472 nichts als die Idee der Hallenkirche beibehalten. Die Rundpfeiler und die Gewölbe des Mittelschiffs ließen sie stehen, durchbrachen aber die Mittelschiffwände, wobei die achteckigen Pfeiler entstanden, die sich jetzt über den Rundpfeilern erheben, (die also nicht neu errichtet wurden, wodurch auch die Ungenauigkeit der Kanten erklärlich wird.) Die Wand des linken Seitenschiffs wurde soweit hinausgerückt als die Sakristei vorstand, beide Schiffe in gleicher Höhe gewölbt, wie das Mittelschiff. Die Gewölberippen sitzen einerseits auf Konsolen, andererseits auf Pfeilervorlagen von teils rechteckiger, teils vieleckiger Gestalt, die offenbar die alten Strebepfeiler der vorausgegangenen Basilika repräsentieren. (vgl. Geisnidda). Die Dienste des linken Schiffes wurden ungeschickt abgebrochen, ebenso ungeschickt wurde das Maßwerk des stehengelassenen Fensters behandelt. Reizvoll erscheint nur die Außenseite des rechten Schiffes mit den vier Giebeln. Im Übrigen war dieser Umbau ein sehr unglücklicher Griff. Das Dach, das damals über dem Langhaus errichtet wurde mit den drei Walmdächern über der linken Seite, ist wohl das heute noch vorhandene. Der heutige Zustand des Dachwerks ist sehr schlecht, ein Teil der Hölzer stark verfault, besonders die Schwelle des Windverbandes. Das Langhausdach ist bequem zu erreichen, da die Wendeltreppe bei der Sakristei entsprechend hoch führt. Das Dach des Chores ist nur durch eine Leiter erreichbar, aber sehr gut erhalten. Von einer Unterstützungs-Konstruktion der letzten Jahrzehnte abgesehen ist es wohl ebenfalls noch [Seite-8] das alte gotische Holzwerk. Der Dachreiter enthält eine undatierte Glocke mit der Umschrift Ave Maria und einem gotischen Ornament. Das Chordach blieb von Fledermäusen verschont, und zeitweilige Fledermausjagden hätten zur Erhaltung des unteren Daches sicher viel beigetragen, da die Exkremente dieser Thiere zur Fäulnis des Holzes führen.

Was nun den inneren Ausbau anlangt, so stammen vom alten Bau von 1240 noch die 12 Ehrenplätze, die jetzt die erste Reihe der Quer-Empore bilden und mit den Chorstühlen von Wetter und Marburg genau übereinstimmen. Die Emporen des Langhauses stammen wohl aus der Zeit des Umbaues (1472), das Holzwerk des Chores wie die Kanzel stammen aus protestantischer Zeit (17. Jahrhundert). Die Orgel wohl von 1638, wie die Inschrift der darunter stehenden Holzsäule annehmen lässt. Die ganze Kirche hatte einen roten Anstrich, wie die meisten Kirchen der hessischen Schule – vielleicht mit aufgemalten weißen Fugenlinien. Die Gewölbe waren weiß mit rotem Fugenmuster und stellenweise roten Sternen. Die Kapitäle des Chores waren intensiv grün, die Farbe ist unter der Tünche noch in voller Frische erhalten. Ob außer dem Fresko-Gemälde der Trennungswand zwischen linkem Seitenschiff und Sakristei sonst noch farbiger Schmuck vorhanden war, muss bei der bevorstehenden Renovierung erforscht werden, die unsere Kenntnis des allmähligen Werdens dieses Bauwerkes sicher bereichern und festigen wird.

Die wichtigsten, bisher festzustellenden Daten sind der Reihe nach folgende:

Um 1240 Bau des Langhauses als frühgotische dreischiffige Basilica von 4 Jochen (über Turm und Chor dieser Bauperiode ist nichts bekannt); 1393 Neubau von Chor, Sakristei samt Wendeltreppe (spätgotisch); 1394 Einsturz des Turmes. Neubau des Turmes (spätgotisch); ca. 1472 Umbau des Langhauses zur Hallenkirche mit Emporen von Holz (spätgotisch); 17. Jahrhundert Holzwerk des Chors und Kanzel (Renaissance); 1638 Orgel (Renaissance); 1836 Verkürzung des baufälligen Turmes.

Erstveröffentlichung:

Paul Frankl, Zur Baugeschichte der Walpurgiskirche, in: Oberhessische Zeitung (1902), danach in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 1. Reihe, Nr. 3, 1902, S. 2-8.

[Stand: 17.04.2024]