Ihr Vaterland war Deutschland
Dokumentation der Auswanderung der Angenröder Israeliten in der NS-Zeit

Von Prof. Dr. Ingfried Stahl, Angenrod (2024)

Mit dem Beitrag „Ihr Vaterland war Deutschland – Angenrods israelitische Emigranten in der NS-Zeit“, verfasst von Lokalhistoriker Ingfried Stahl und jetzt erschienen im Jahresband 2023 des „Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen“, wurde der Geschichtsaufarbeitung der einstmals florierenden jüdischen Gemeinde Angenrods ein weiterer Mosaikstein hinzugefügt.

Hugo Speier, gebürtiger Alsfelder (links), zusammen mit weiteren
Immigranten bei seiner Ankunft 1937 in New York
Foto © Privatsammlung Artie Speier

Schon bald nach der Machtergreifung Hitlers und somit der NSDAP setzte das Nazi-Regime mit dem Boykott jüdischer Geschäfte ein unübersehbares Signal seiner ausgrenzenden Judenpolitik. Grundlage aller späteren antisemitischen Aktionen im Deutschen Reich waren die 1935 auf den Weg gebrachten sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die vom damaligen Reichsparteitagspräsidenten Hermann Göring feierlich verkündet wurden.

Diese der Menschenwürde eklatant Hohn sprechenden Gesetze verliehen der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten eine formalrechtliche Grundlage. So mussten auch die auswanderungswilligen Angenröder Juden ihren Haus- und Grundbesitz an „arische“ Interessenten verkaufen, dies nicht zum tatsächlichen Verkehrswert, sondern zum Einheitswert, der ganz erheblich darunter lag. Die letztlich offiziellen „Kaufverträge“ wurden von einem Notar (zumeist in Alsfeld) abgefasst und beurkundet.

So war es auch in Angenrod, dass die einzelnen in jüdischem Besitz befindlichen Angenröder Wohn- und Stallgebäude beziehungsweise Grundstücke aufgrund der Basierung auf dem Einheitswert deutlich unter tatsächlichem Verkehrswert verkauft werden mussten.

Auch die „Oberhessische Zeitung“ berichtete über die Hausverkäufe 1937 unter der Titelzeile „Juden wandern aus“. Oft nach dem als für Juden als sicher geglaubten Frankfurt am Main oder in einigen Fällen nach Übersee, überwiegend in die USA und Südafrika, in einem Fall auch nach Uruguay.

Gut integriert in Dorfgemeinschaft

Retrospektiv und mit Blick auf die gut 200-jährige Geschichte der Angenröder jüdischer Konfession fühlten sich die Angenröder Israeliten grundlegend als deutsche Staatsbürger: Ihr Vaterland war Deutschland. Sie waren im Wesentlichen gut integriert in die Gesamtbevölkerung, wie sich an der Beteiligung in den örtlichen Vereinen und an den Veranstaltungen, aber auch an persönlichen Erklärungen wie der von Parnass Sally Wertheim – 1942 Shoah-Opfer – festmachen lässt. Der Deutschland-Bezug lässt sich unter anderem auch an diversen Grabsteinen auf dem jüdischen Gemeinschaftsfriedhof Angenrods aufzeigen. Hier sind Eichenlaub-Reliefs auf den historischen Grabmalen als eindeutige Bekenntnisse zur deutschen Zugehörigkeit zu interpretieren. Die Chronologie der Haus- und Grundstücksverkäufe in Angenrod, soweit sie ab 1935 im Rahmen der sogenannten Entjudung beziehungsweise „Zwangsarisierung“ vorgenommen wurden oder werden mussten, lässt sich anhand der Dokumente des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, des Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden, aber auch der Eintragungen in die Brandkataster archivisch belegen.

„Arische“ Grunderwerber waren teils Bürger Angenrods selbst, teils aber auch Käufer, die von Nachbarorten nach Angenrod kamen, also „Neu-Angenröder“ wurden. Die Erstehungskosten im Rahmen dieser sogenannten Entjudungen – sie wurden in Einzelfällen sogar noch amtlich heruntergesetzt – lagen in Angenrod in der Spanne von unterhalb 1.000 Reichsmark bis noch unterhalb 5.000 Reichsmark (RM).

Aus Rücksichtnahme auf die Angehörigen beziehungsweise Nachfahren der inzwischen verstorbenen Käufer werden die einzelnen Grunderwerber und die detaillierte Dokumentation der in der Nachkriegszeit abgewickelten Entschädigungen beziehungsweise Rückerstattungen an dieser Stelle nicht genannt.

Die Aufarbeitung dieser Thematik war vor allem durch einzuhaltende Datenschutzfristen erst jetzt möglich, um die Vitae und repressionsbedingten Auswanderungen von 27 Angenröder Israeliten auf der Basis umfassender Recherchen vor allem im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt zu dokumentieren.

Blick auf Alsfelder Familie

Integriert wurde auch die Emigration der Alsfelder Speier-Familien-Mitglieder Hugo, Berthold und Sally Speier, die in verwandtschaftlichem Bezug zur Angenröder Familie Speier steht.

Hugo Speier (1908-1994) war Neffe des Angenröder Shoah-Opfers Leopold Speier und Vater des Angenröder Gedenkstätten-Mäzens Artie Speier (Dallas, 1941-2023). Eine ganz besondere Note erhalten die veröffentlichten Dokumente im Kapitel „Die emigrierten Angenröder Israeliten kommen zu Wort“.

Hier sind es vor allem die persönlichen Erklärungen der ausgewanderten Angenröder jüdischer Religionszugehörigkeit in ihren Lebensläufen und ihren Entschädigungs- und Rückerstattungsakten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die neben den Zeitzeugenüberlieferungen und zahlreichen Fotos die Geschichte der Angenröder Judengemeinde in Erinnerung bringen.

Erstveröffentlichung:

Prof. Dr. Ingfried Stahl, Ihr Vaterland war Deutschland. Dokumentation der Auswanderung der Angenröder Israeliten in der NS-Zeit, in: Oberhessischer Geschichtsverein Gießen, Jahresband 2023.

[Stand: 23.06.2024]