Von Heinrich Dittmar, Alsfeld (2010)
Vorwort
Als 1954 Bürgermeister Georg Kratz zum Christkindwiegen auf den Turm kam, verwies er in seiner Dankesrede an die Sänger auch auf den geschichtlichen Vortrag des Vorsitzenden Hermann Bender, der schon zur Tradition geworden sei. Ab 1953 hatte Bender jeweils über die Geschichte des Christkindwiegens in Verbindung mit dem Liederkranz-Harmonie berichtet. Also wird wohl in 2012 der 60. Vortrag auf dem Turm gehalten werden. Dies ist eine Tradition, die zu unserer alten Stadt passt. Ebenso gehört der Liederkranz-Harmonie mit dem Christkindwiegen und dem Singen am ersten Feiertag in der Kirche zum Alsfelder Weihnachtsfest. Dazu kommen noch die Bläser, die auch im Frühling, im Mai, uns mit ihren Klängen erfreuen. Ihnen allen gilt unser besonderer Respekt und herzlicher Dank.
Das Aufstellen der Weihnachtsbäume am Morgen des Heiligen Abends ist nicht nur eine „Politschau“, sondern für die Männer und Frauen des Bautrupps harte Arbeit. Dazu gehört auch seit vielen Jahren KK, der Küster Kuske, der für vieles verantwortlich zu machen ist. Er ist ein treuer Turmgänger und ich freue mich schon, wenn er erstmals am Heiligen Abend zum Singen auf den Turm kommen kann. Liebe Freunde, helfen sie alle mit, dass dieser Weihnachtsbrauch auch in Zukunft das Fest in unserer Stadt verschönt.
Die Gaak in Alsfeld
Auf der Suche nach einem ansprechenden Thema für den Turm bin ich mehrfach zu Fuß und in Gedanken durch die Altstadt gegangen. Ich las auch in den Alsfelder Chroniken des 17. Jahrhunderts. Das sind die Aufzeichnungen von Pfarrer Happel aus der Zeit des 30-jährigen Krieges, die Chronik von Johannes Gutwein aus der Zeit von 1621-1646 und Nachträge von ihm zu anderen Inhalten. Zuletzt die Choreographie von Gilsa und Leußler. Moritz von Gilsa war Burgmann in Alsfeld und Amtmann in Homberg, und Heinrich Leußler war Konrektor an der Alsfelder Lateinschule. Choreographie, das bedeutet eingehende Beschreibung und Darstellung der Geschichte.
Die letztgenannten Unterlagen aus dem Jahre 1661 benutzte Wilhelm Gottlieb Soldan zur Erstellung seiner Alsfelder Stadtgeschichte. Leider ist eine Reihe von Urkunden, die Soldan noch im Stadtarchiv einsehen konnte, später verbrannt.
Bei einem Weg durch die Obergasse kam ich zum nun umgebauten Haus von Heinrich Reul, Obergasse 30. Eine mächtige Mauer deutet die vor dem Obertor gelegene Obervorstadt an. Das um 1830 abgebrochene Obertor stand zwischen Metzger Koch und Optiker Gertler. Die Obervorstadt dürfte in ihrer früheren Ausdehnung bis zur Mitte des heutigen Ludwigsplatzes gereicht haben. Davor war im Mittelalter ein großer freier Raum vor dem Frauenberg und zum Schützenrain hin. Hier trafen mehrere Straßen zusammen: von Zell, von Leusel, von Reibertenrod und von Heidelbach. Dazu kam seit 1350 vom Schützenrain her die Liederbach. Sie wurde auch durch die Stadt und die Wallgräben geleitet.
Ein alter Stich, der von Merian aus dem Jahre 1646 sein soll, zeigt die Stadt von Westen. Es ist der Frauenberg zu sehen und links davon ein Wassertümpel mit einem Galgen. Dem möchte ich jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit widmen.
In 1524 wird in einem Brief die „Hoge-Gass“ erwähnt. Das ist unsere Obergasse heute. Der Chronist erwähnt auch den Namen „Auf dem Houg“ oder dem „Hoiff“. Dort ist in alten Zeiten Gericht abgehalten worden. Zum Schützenrain hin soll ein Galgen gestanden haben. Unweit davon war ein großer Wassertümpel, die „Gaak“ [01]. Einmal war es eine Pferdeschwemme und hatte noch eine weitere Aufgabe, die Pfarrer Happel so beschreibt:
„Anno 1638, als zwei Gartendiebinnen sollen zu Alsfeld gegackert werden und schon bereits die erste, von Eydorff, Fischer Anna genannt, durch des Scharfrichters, Meister Bastians Gesinde in den Korb gesetzet und halb aufgezogen worden, dabei besagter Meister unwillig wird, dass die Maleficantin so schwer aufzuziehen. Indem fällt zu allem Unglück vom starken ziehen die Gacke von Grund aus danieder und gerade dem Scharfrichter uff sein Hirnschal, dass er so bald tot hernieder fällt. Die Diebin aber rettet sich aus dem Korbe und läuft davon. Als ihr nun fremde Leute in der Berggassen begegnen und gefragt, was für ein Tumult dort sei, antwortet sie: Sie wollen eine gacken. Die andere Diebin aber wird nach diesem Unfall wieder in Haften gebracht und nach Verfertigung einer neuen Gacke rechtschaffen gegackert. Nach aufgerichteter neuen Gack ist das Wasser, die Tränk genannt, renovieret und ummauert worden.“
Viel mehr wissen wir von der Alsfelder Gaak nicht. Nur in einem Bericht über alte Stadtrechnungen gibt es einige Hinweise:
1585 – ein neuer Korb
1589 – 6 Strenge vom Seiler
1599 – erneut ein Korb und Strenge
1611 – ein neuer Galgen, kostet 44 fl. 19 Alb.
1670 – Gack repariert und Eisen zum Triller vors Rathaus für Diebsgesellen.
So ging es eben her im 16. und 17. Jahrhundert.
Die vorgenannte Gack hatte in früherer Zeit noch weitere Namen: Schnappgalgen, Lasterkorb, Schnellkorb und Bäckertaufe, Bäckerschnelle, Bäckergalgen und weitere Bezeichnungen. Bürgermeister Becker mag nicht erschrecken, es geht um die Bäcker mit „Ä“ und nicht die Becker mit „E“. Es war ein Strafinstrument für Gotteslästerer, kleine Diebe und besonders für Bäcker, wenn ihnen zu geringes Gewicht beim Brot nachgewiesen wurde. Ob auch leichte „Weck“ gemeint waren, ist mir nicht bekannt.
Damit es alle wissen, die Gack gibt es heute nicht mehr. Der Schnappgalgen ist schon seit über 250 Jahren nicht mehr in Betrieb. Im Café Klingelhöffer hängt heute noch ein interessantes Bild, das im Juni 1953 dort aufgehängt wurde. Es ist ca. 1,50 m hoch und ca. 2,70 m breit. Es wurde von Karli Weitzel und Willi Weide gemalt. Die Idee hatte Bäckermeister Karl Klingelhöffer, der Besitzer des Cafés. Das Bild zeigt den Vorgang des Gaackens mit der Stadt Alsfeld im Hintergrund. Der Bösewicht wird gerade zu Wasser gelassen, Schöffen und Ratsherren stehen in zeitgenössischer Tracht dabei und natürlich Zuschauer. Von der Presse wurden das Bild und die Ausschmückung des Lokals damals sehr gelobt. Es wurde zur Nachahmung für andere Wirte empfohlen.
Die Bäckerei Klingelhöffer wurde 1844 an der Ecke der Bahnhofstraße und der Hohl erbaut und in Betrieb genommen. Gegenüber stand ab 1887 das Gasthaus „Deutscher Kaiser“, das auch „Haus Vaterland“ genannt wurde. Hier im großen Saal fanden sehr viele Veranstaltungen auch der Parteien statt. Die Bäckerei Klingelhöffer ist seit 1960 nicht mehr im Besitz der Familie. Bäcker Mosbacher aus Forst in der Pfalz führtes es bis vor einigen Jahren und verpachtete es an die Firma Jungclas. Am 24.12.2010 schließen die Bäckerei und das Café. Eine 170 Jahre alte Tradition geht zu Ende. [02] Es wäre zu hoffen, dass das Bild von der „Gaak“ der Öffentlichkeit weiter zugänglich gehalten wird. [03]
Klingelhöffer in Alsfeld
Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die Familie Klingelhöffer in Alsfeld. Um 1760 wurde Johann Reinhard Klingelhöffer aus Wetter in Alsfeld als Bürger angenommen. Er heiratete in eine Bäckerei ein. Seine Nachkommen finden wir heute noch im Restaurant und Hotel Klingelhöffer in der Hersfelder Straße: das „Entenviertel“. Ein Familienzweig war später im Brunnencafé, heute Eisenach, in dem Minna Klingelhöffer das Zepter führte. Im Nachbarhaus war Zahnarzt Reinhard Klingelhöffer, dessen Sohn Reinhard heute den väterlichen Beruf noch ausübt. [04] In der Obergasse war Georg Klingelhöffer mit einem Elektrobetrieb. Zwei seiner drei Töchter leben noch in Alsfeld. Das Kronencafé Ecke Obergasse/Schellengasse hatte auch für einige Zeit einen Hugo Klingelhöffer als Betreiber. Jetzt [noch] die Familie Jakob Klingelhöffer in der Alicestraße mit dem Bäcker Karl Klingelhöffer [und] seinem Bruder Dr. Rudolf Klingelhöffer, der in der Alicestraße neben Dr. Weber eine Zahnarztpraxis hatte.
Es gibt auch einen weltweiten Familienverband der „Klingelhöffer“. Gabi Klingelhöffer-Döpke im Entenviertel ist mit ihrer Mutter die letzte des Stammes in Alsfeld.
Nachbetrachtungen 2010
Der Ludwigsplatz, wie ich ihn beschrieben habe, sieht heute ganz anders aus. Die Bürgermeister Georg Jakob Ramspeck und Dr. Karl Völsing haben die heutige Form geschaffen.
Gar mancher kann sich noch an Berichte von großen Viehmärkten dort erinnern. Die Liederbach ist verschwunden. Heute spielen Autos und Laster hier die große Rolle. Die Post hat auch die ehemalige Bedeutung verloren. Die Entwicklung geht eben weiter.
Zu danken habe ich vielen Alsfeldern, die ich mit Fragen löcherte. Josef Mosbacher [05] danke ich, er hat mir viel von seinem Vorgänger berichtet. Die Familien Klingelhöffer halfen mir auch gerne. Herzlichen Dank auch an jene, die mir den Bericht hier oben ermöglichten.
Anmerkungen:
[01] Es sind auch die Schreibweisen „Gack“, „Gaak“, „Gaack“, „Gaagk“ gebräuchlich.
[02] Seit 2016 beherbergt das ehemalige Café Klingelhöffer das Rohat Kebaphaus, zwischendurch war die LBS in den Räumlichkeiten.
[03] Unmittelbar nach der Schließung wurde das Bild dem Geschichts- und Museumsverein übereignet.
[04] 2007 schloss er seine Zahnarztpraxis in der Georg-Dietrich-Bücking-Straße.
[05] Josef Mosbacher verstarb 2011.
Erstveröffentlichung:
Heinrich Dittmar, Die „Gaak“ in Alsfeld. Vortrag anlässlich des „Christkindwiegens“ auf dem Turm der Walpurgiskirche im Jahr 2010, in: Monika Hölscher: Alsfelder Geschichte(n). Ein Erinnerungs- und Lesebuch, Alsfeld 2021, S. 206-208.
[Stand: 03.07.2024]