Die Bibel der Alsfelder Scharfrichter

Von Prof. Dr. Eduard Edwin Becker, Alsfeld (1911)

Vor einiger Zeit fiel mir eine alte Bibel in die Hände, ein stattlicher Band in reichem Pergamentband. Sie stammt aus Luthers Druckerei „Wittenberg bei Hans Lufft 1558“. Das Auge freut sich an den kraftvollen Typen, den markigen Holzschnitten. Da fällt der Blick auf Geschriebenes. Hier und da haben längst vermoderte Hände Bemerkungen zum Text geschrieben, hinten aber sind mehrere Blätter beigebunden; eine ganze Familienchronik ist da zu finden.

Die Alsfelder Scharfrichterbibel
Foto (hinzugefügt) © GFA

Wer mögen die sein, die da einst dem Buch der Bücher ihre Freuden und Leiden anvertrauten? Da stößt das Auge auf bekannte Namen; und nun eine seltsame Notiz: „Hab ich Johannes Hamell eine Menschen gericht zu neu kercken (Neukirchen) in der Hun, die hat 5 Jahar mit ihrem Vatter zu thun gehabt, den 3. Augustus 1683“ [03.08.1683]. Jetzt weiß ich,  woher mir die Namen bekannt sind: es ist die Bibel der Alsfelder Scharfrichter.

Eine ganze Dynastie von Alsfelder Scharfrichtern und Wasenmeistern ist fast 300 Jahre einander gefolgt, seitdem 1643 Johannes Hamel, der Sohn des Licher Nachrichters, die junge Witwe des früh verstorbenen Alsfelder Henkers gefreit hatte. [01] Und dieser schon hat das Buch besessen. Seitdem ist es in ununterbrochener Folge in der Familie geblieben. Bis heute. [02] Bis zu der Zeit, wo der schwere Fluch der „Unehrlichkeit“, der dem Scharfrichter und seinen Kindern anhaftete, von ihnen genommen wurde, wo sie andere Berufe ergreifen, mit anderen Menschen Verkehr und Freundschaft pflegen durften.

Verachtet und gemieden von Jedermann musste der Henker sein Leben führen. Kein ehrlicher Mann litt ihn in seiner Gesellschaft; keiner gönnte ihm auch nur einen Gruß, einen freundlichen Blick. So saß er einsam draußen in seinem Häuslein vor der Stadt. Wohl mags ihm manchmal bange geworden sein wegen seines Berufes. Man stieß ihn aus. Man wandte sich von ihm ab. Hatten sie nicht recht, die „ehrlichen“ Leute? Stand er außerhalb der göttlichen Gebote? Durfte er töten, anderen Menschen das blühende, warme Leben nehmen?

Da liest er in der alten Bibel. Er liest sie von vorne an bis hinten durch. Was findet er? „Keine Person sollt ihr ansehen im Gericht […], denn das Gerichtamt ist Gottes.“ (5. Moses 1, 17). „An der Stelle, da Hunde das Blut Naboths geleckt haben, sollen auch Hunde dein Blut lecken.“ (1. Kön. 21, 19). „Ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er ist mit euch im Gericht“ (2. Chron. 19, 6). Er atmet auf. Keine Schuld lastet auf ihm; es ist Gott, der durch ihn richtet. Ziehts nicht durch die ganze Schrift des alten Bundes, dass Blut wieder Blut fordert? Ja, lässt Gott nicht geringfügige Vergehen blutig ahnden? Auf Amasas Ermordung (2. Sam. 20, 9) folgt Joabs Strafe. Die Kinder, die Elisas Kahlkopf verspotten, zerreißen die Bären (2. Kön. 2, 23). Ja, das gibt Trost! Immer wieder will er diese Stellen lesen, wenn das Herz sich krampft unter der Verachtung der Menschen. Auch die Kinder, die armen, zum Makel geborenen, sollen diese Stellen finden und ihren Trost. Drum malt er jedesmal eine weisende Hand daran.

So wird ihm seine Bibel lieb. Hier und da findet er Beziehungen auf sich und sein Amt. Als Fachmann hat er seine Freude an dem blutigen Auftrag, den Salomo erteilt, um seine Weisheit zu bezeigen (1. Kön. 3, 25). Aber er sieht auch sein ganzes Elend darin dargestellt. Wo es heißt, „du wirst unter denselben Völkern kein bleibend Wesen haben“, (5. Mos. 26, 65), da schreibt er an den Rand: „Dises ist uns zum exempel genungsam“ und auch Jes. 42, 24 (Wer hat Jakob übergeben zu plündern und Israel den Räubern?) presst ihm den Seufzer aus: „Das sind mir in dieser Zeit, das der Herr uns auch so straffet.“

Doch nicht nur, was ihm die Bibel zu sagen hatte über sein Amt, war dem Leser wichtig. Mit gläubiger Bewunderung liest er, was er an Wundergeschichten und Merkwürdigkeiten im Buch der Bücher sieht. Auch auf die sprechende Eselin Bileams (4. Mos. 22, 30) weist wieder eine Hand, und ebenso auf das Wunder, das die Gebeine Elisas wirken (2. Kön. 13,21). Vielleicht spricht hier noch das Interesse am zauberischen Aberglauben mit, der sich vielfach mit dem Beruf des Henkers verband. Wo die Rede ist von Salomos prunkvoller Hofhaltung (1. Kön. 11, 5), steht ein verwundertes „700 Weiber und 300 Kebsweiber“; und ebenso erstaunt sich der Leser darüber, dass zur Zeit der großen Teuerung die Hungernden „wilde Rancken zum gemuß“ aßen (2. Kön. 4, 39); und dass Elisa die entfallene Axt wieder aus dem Wasser bringt, entlockt ihm ein bewunderndes: „das Eissen schwimpt“. Der moderne Leser findet in solchen Bemerkungen vielleicht Äußerungen des aufsteigenden Zweifels. Doch dem war nicht so. Sein Gottesglaube äußert sich z.B. in dem Worte zu Jesaja 43, 12, 13: „Hie werden die Götzen zu nichts gemacht“ und in dem Stoßgebet zu der furchtbaren Drohung: „Du wirst die Frucht deines Leibes fressen, das Fleisch deiner Söhne und deiner Töchter“ (5. Mos. 28, 53), wo er schreibt: „Gott wölle uns für solcher grosser nutt (Not) und Elendt bewahren.“ Ja, sein religiöses Leben war wie das seiner Umgebung eng konfessionell bestimmt. Wenn er 5. Mos. 28, 50 von einem „frechen Volke“ liest, so kann er dies als guter Lutheraner gar nicht anders deuten, als durch einen Hinweis auf die gehassten Kalvinisten: „ein frech Volck, welches wir itz in unsern landen haben, in calvinischen landen“.

War so die Bibel der Tröster unseres Henkers geworden, der Freund seiner einsamen Stunden, so vertraute er ihm nun auch die Freuden und Leiden seines Lebens an. Was ihm bemerkenswert war, wenn ein Kind geboren wurde, wenn der Todesengel erschien, das wurde da für die kommenden Geschlechter aufbewahrt. Und manche vornehme Familie unserer Zeit würde mit Gold ein solches Buch aus so alter Zeit aufwiegen.

Es überwiegen die Geburtseinträge. Waren doch die Henkersfamilien reich mit Kindersegen bedacht. Johannes Hamel hatte allein 17 Kinder, von denen allerdings nur 7 in dem Buche verzeichnet sind. Vielleicht hat er das Buch erst nach der Geburt des zehnten gekauft. Er hat die Form der Einträge geprägt. Die späteren Geschlechter haben sie nachgeahmt. Herzlich-väterlich nimmt der Vater das Neugeborene in Besitz, wenn er schreibt: „Im Jahre 1656 ist mein Johann Henrich auff disse welt geboren worden den 31. majus. Gott gebe Uns all mit einander ein freliges Leben.“ Ein fröhliches Leben! Was wartete der Neugeborenen? Ein trauriges Leben, sollten wir meinen. Wohin sie sich wandten, folgte ihnen ihre „Unehrlichkeit“. Keine Zunft nahm sie in ihre Reihen auf, keine Stadt gewährte ihnen Bürgerrecht. In die entferntesten Länder begleitete sie der Makel; denn nie konnten sie ein Zeugnis ehrlicher Geburt beibringen, wie es überall verlangt wurde.

Von Johann Peter, dem Sohne Johann Hamels, rührt dessen Todeseintrag her: „Im Jahre 1685 den 27. februvarius ist mein vatter Johannes Hamell selig entschlaffen denn abent zwischen 6 und 7 Uhr und den ersten Martius begraben worden. Seiner Seelen Gott gnade.“ Johann Peter selbst trug 10 Kinder in das Buch ein, nur von einem Kinde den Tod [03]: „Im Jahr 1693 ist mein Eva Christina (zur) Welt geboren worden den 28. Nofem(ber) Abenß zwischen 6 unt 7 uhrn; hatt es aber der libe Gott sobalt mit ei(nem) hertz fluß beladen unt ihm ein kreitz (aufgelegt?), buß den 1ten December alß dan zwischen 4 unt 5 Uhr auß diser W(elt) zu sich in die Ewige freind einge(führt). Gott gebe unß sonst Alle ein frogliges Leben).“

Also selbst hier das fröhliche Leben!

In ein freundliches Familienleben lässt uns der rührende Nachruf blicken, den Joh. Philipp Hamel seiner Schwiegermutter widmet und der dadurch an seinem Werte nichts verliert, dass er statt der Ausrufe- lauter Fragezeichen setzt: „Anno 1766 d. 14ten Feberoeri des morgens zwieschen 2 und 3 Uhr ist meine frau Schwieger mutter Seelich entschlafen, den 16. darauf mit Christliecher Cominion begraben worden. gott gebe Ihr eine frelichs Auferstehung? Ein solches hat geschriewen zum Denckmahl Ihr Lieb gewesener Eitam Johann Philippus Hamel? Ach Herr lehr uns betenken wohl, das mir sein sterblich Alzumahl, auch mir alhir kein Bleiwens hann, müsen Al davon, gelehrt, Reich, Jung oder Schen.“

Herzlich sind auch die beiden Heiratseinträge gefasst, von denen wieder der jüngere den älteren nachahmt: „Anno 1686 den 21. Dag October hab ich (Johann) Peter Hamell mit meiner annamargreta (Hersfeltin unsern) hoch zeittlichen ehrendag gehalten. (Gott ge)be uns verner seinen segen.“ „Anno 1710 den 4. mertz hab ich Johann Henrich Hamell mit meiner anna liesabeta unssern hoch zeittlichen Eren Dag gehalten. gott gebe uns verner sienen segen.“ Diese Elisabetha, auch eine geborene Hamelin, bestimmt zweimal die Gesänge für ihr Begräbnis: „Mein leigt geßeng: ach gott ich muß in traurigkeit mein leben nun abschlißen, die weil der tod von meiner seit So eilent hat gerißen […]. Der grimig tod mit seinem Pfeil […] o ießus Krist meines lewenß ligt […] (alle menschen müsen sterben).“

Hinter dem Heiratseintrag des Johann Peter Hamel stehen einige unverständliche Buchstaben (q u I n u I I I x v III xxxx vi u x i I). Wenn sie nicht einfache Federübungen sind [04], so gehören sie wohl in das Gebiet des Aberglaubens und sollen Glück verheißen. Wie schon bemerkt, gingen ja die Henker viel mit Aberglauben um.

In dies Gebiet gehört es wohl auch, dass bei den meisten Geburtseinträgen die Stunde der Geburt genau vermerkt ist. Legte doch der Glaube des 17. Jahrhunderts hohen Wert auf die Gestirnstellung zur Zeit der Geburt. Mit dem Aberglauben hängt endlich wohl auch die Beobachtung und Aufzeichnung von Naturereignissen zusammen, von denen wir folgendes hören:

„Im Jahar 1671 den 24. December den Abend zwißen 7 und 8 Uhr ist ein Drach geschoßen iber die stat Alffelt und ist geschoßen Als wann Er nach focken Roht [05] geschoßen wehr.

„Im Jahr 1680 den 16. December den Abend zwischen 4 und 5 uhr hat sich ein Stern und ein langer Strahl aus dem Stern sehen lassen und hat gestanden Alß wan es nach Zel [06] wäre und auf die Preße [07] gedeutet.“

Soweit die Bibel der Alsfelder Scharfrichter. Sie lässt uns manchen Blick tun in das Innenleben jener Ausgestoßenen und Gemiedenen. Ists auch im ganzen dasselbe Bild, wie es uns auch andere Stände in derselben Zeit zeigen, so gibt ihm doch die „Unehrlichkeit“ seine besondere Note. Und auch hier, wie so oft im Leben der Mühseligen und Beladenen, hat das Buch der Bücher seine aufrichtende und tröstende Kraft erwiesen.

Anmerkungen:

[01] 1643-1685 Joh. Hamel; 1685-1704 dessen Sohn Joh. Peter Hamel; 1704-1739 dessen Sohn Joh. Henrich Hamel; 1739-1758 dessen Neffe Joh. Henrich Schißler; 1758-1806 dessen Neffe und Schwiegersohn Joh. Philipp Hamel; von 1806 an dessen Sohn Stephan Hamel. Vgl. Mitteilungen, Reihe 2, 16 und 17.

[02] Die Bibel ist jetzt durch unseren Geschichtsverein angekauft worden und im Museum ausgestellt.

[03] Der Text ist am Rande beschädigt und in Klammern ergänzt.

[04] Wie etwa der zehnjährige Joh. Christoffel Hamel schreibt: „Zu Liebe allezeit ist mein Hertz bereiht. Lust und Liebe zu Schreiben, daß kann die Zeit verdreiben. Den 24. December 1709.“

[05] Vockenrode.

[06] Zell.

[07] Es ist wahrscheinlich die Bresche gemeint, die bei der Belagerung von 1646 in die Mauer geschossen worden war. Sie war zwar schon 1666 zugemauert. Immerhin mag man die Stelle der Mauer noch danach genannt haben. In ihrer Nähe stand das Haus des „Meisters“.

Erstveröffentlichung:

Eduard Edwin Becker, Die Bibel der Alsfelder Scharfrichter, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 3. Reihe, Nr. 6, 1911, S. 41-45.

Vertiefungsliteratur:

Norbert Hansen, Richard Jungk, Bodo Runte, Immer wieder im Blickpunkt: Die Bibel der Alsfelder Scharfrichterfamilie Hamel, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 109. Jahrgang,
Heft 1, 2010, S. 8-17.

[Stand: 03.07.2024]