Größter jüdischer Friedhof im Kreis
Dokumentation der israelitischen Ruhestätte in Angenrod. Bedeutender Ort einer lebendigen Erinnerungskultur nicht nur für Angehörige

Von Dr. Ingfried Stahl, Alsfeld-Angenrod (2019)

In Kooperation mit der „Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen“, angesiedelt im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), erfolgt nun auch die Gesamtdokumentation des israelitischen Friedhofs in Angenrod. Den aufwendigen Detailauswertungen mit insbesondere auch digital-fotografischer Erfassung aller 206 Grabmale widmet sich, unterstützt von Mitarbeitern der landesübergreifenden Kommission, Angenrods Zeitgeschichtsforscher Dr. Ingfried Stahl.

Angenrods jüdischer Friedhof im Jahr 1980
Foto: Ingfried Stahl

Der Angenröder, der in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe umfassender Bücher und Beiträge zur örtlichen und regionalen Zeitgeschichte – neben der Geschichte der Israeliten auch die umfassende Aufarbeitung der Ära des Nationalsozialismus als weiterer Schwerpunkt – veröffentlichte, hat bereits vor seiner Instandsetzung erste Fotos des damals noch maroden jüdischen Friedhofs aufgenommen.

Die teils bereits umgefallenen oder gekippt stehenden Grabmale wurden in den Jahren 1980/1981 im Auftrag der Stadt Alsfeld von der Firma Ruhl fachgerecht aufgerichtet, gesichert und in einen würdigen Zustand versetzt, dies insbesondere auch mit Blick auf immer wieder die Gräber ihrer frühen Vorfahren aufsuchenden israelitischen Nachfahren, sei es aus den USA, aus Großbritannien oder auch aus Israel.

Erste Details des Prozederes der Dokumentation der noch vorhandenen Grabmale auf dem Friedhof am westlichen Ortseingang wurden kürzlich in Wiesbaden bei einer Zusammenkunft mit dem Geschäftsführer der Kommission, Archivoberrat Dr. Hartmut Heinemann, erörtert. Den Kontakt zu dem Experten für jüdische Sepulkralkultur vermittelte Michael Lenarz, stellvertretender Direktor des jüdischen Museums in Frankfurt. Lenarz selbst hatte bereits im Oktober 2009 als Leiter einer Bus-Exkursionsgruppe der Volkshochschule Offenbach auf den Spuren jüdischen Lebens im Vogelsbergkreis auch dem Angenröder Friedhof einen Besuch abgestattet.

In Auswertung der Veranstaltungen der Friedenswoche Ende des Jahres 1988 hatten auch schon zwei Jahrzehnte zuvor Pfarrer Walter Bernbeck und Rieko Becker sowie Gemeindepädagoge Uwe Langohr unter anderem gefolgert, Angenrod könne stolz auf seinen israelitischen Friedhof sein. Der evangelischen Kirche sei es daher ein wichtiges Anliegen, diesen Friedhof in der Zukunft gemäß den israelitischen Richtlinien in einen würdigen Gesamtzustand zu versetzen.

Grabstein von Löb Levi (Angenrod)
mit Eichenlaub-Dekor als Bekenntnis zu Deutschland

Dem Sammelfriedhof, bezüglich Inschriften-Dokumentation angenommen, hatte sich dann schon im August 2005 eine Besuchergruppe katholischer Jugendlicher aus Polen, die anlässlich des Weltjugendkirchentags der Katholiken in Köln eine Zwischenstation in Ruhlkirchen machte. Das kleine Angenröder Projekt hatte damals Hans Rupp (Vockenrod), der Pfarrgemeinderats-Vorsitzende der Pfarrei St. Michael (Ruhlkirchen), initiiert und betreut. Notizen und Aufzeichnungen von diesem Projekt sind allerdings archivisch nicht überliefert.

Auswertung

Kommissions-Geschäftsführer Heinemann (79) erklärte, der Angenröder Judenfriedhof solle in der gleichen Weise dokumentiert werden, wie die bisher schon abgeschlossenen Friedhofsprojekte im übrigen Hessen. Aktuell seien unter Fokussierung auf einige jüdische Sammelfriedhöfe vor allem Mittel- und Südhessens schon rund 70 Ruheareale mit insgesamt 17.000 Grabstätten ausgewertet. Jüdische Friedhöfe seien oft die einzigen noch sichtbaren Zeugnisse der vormals reichen und dann in der NS-Zeit untergegangenen jüdischen Kultur hierzulande, die es zu bewahren gelte, so das offizielle Paradigma.

Manchen Zerstörungen und Verlusten zum Trotz haben in Hessen noch fast 370 jüdische Friedhöfe mit vielen Tausend Grabsteinen die Zeiten überdauert. Im Gegensatz zu den christlichen Grabstätten dürfen israelitische Friedhöfe nicht aufgelassen werden. Aus religiöser Tradition verstehen sie sich als für die Ewigkeit gedacht.

Im Verbund mit dem Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg werden, wie Kommissionsgeschäftsführer Heinemann jetzt erläuterte, alle analog ausgewerteten jüdischen Friedhöfe online gestellt: via des Landesgeschichtlichen Informations-Systems Hessen (LAGIS). Im Themenmodul „Jüdische Grabstätten“ sind dann präzise Angaben zu den etwa 370 israelitischen Begräbnis-Plätzen abzurufen.

Wenn möglich, involvieren diese das Alter, die Zeit der Belegung und die Flächengrößen und natürlich auch die Anzahl der noch vorhandenen Grabsteine. Zudem soll eine kurze Darstellung der Friedhofshistorie erfolgen, gepaart auch mit Hinweisen der Friedhofslage und dessen Zugänglichkeit. Von den unter Koordination von Stefan Aumann (Marburg) – wissenschaftlicher Mitarbeiter im Landesamt und seit 2015 auch Mitglied der Kommission – erarbeiteten Datensätzen werden Verweise auf die im Modul bearbeiteten Grabsteine gegeben.

Spezialgebiet Dr. Heinemanns ist die Sepulkralkultur, im weiter gefassten Sinne auch Trauer- und Begräbniskultur der jüdischen Bevölkerung in Hessen. Seine Expertise belegen auch viele Fachveröffentlichungen und die Publikation mehrerer Bücher und Bände auf diesem Gebiet.

So hatte er auch schon 2001 gemeinsam mit Christa Wiesner als der Hebräischen Schrift sehr kundigen Co-Autorin und auf Basis langjähriger Forschungstätigkeit seiner Mitarbeiter einen Bildband zum jüdischen Friedhof in Alsbach (Bergstraße) herausgegeben.

Hessenweite Einordnung

Mit mehr als 2.100 Grabsteinen auf einer Fläche von über 22.000 Quadratmetern ist es der weitaus größte Sammel-Landfriedhof hierzulande, mit Gründung im Jahr 1616 zudem einer der ältesten. Sein Einzugsbereich umfasste in einem Umkreis von 20 Kilometern diesen als letzten Ruheplatz für die jüdische Bevölkerung aus 32 Städten im hessischen Ried zwischen Rhein und Bergstraße.

Aber auch Angenrods israelitischem Friedhof kommt regional mit großem Abstand Platz eins zu. Mit 207 Grabstätten, darunter 204 erhaltene Grabsteine, ist auch er, verglichen mit den anderen jüdischen Gemeinden im heutigen Vogelsbergkreis – Alsfeld (133), Bobenhausen II (40), Crainfeld (75), Einartshausen (35), Grebenau (120), Homberg (68), Kestrich (60), Kirtorf (57), Lauterbach (54), Nieder-Ohmen (41), Rülfenrod (2), Schlitz (31), Schotten (118) und Storndorf (100) – der bei Weitem größte israelitische Friedhof im Kreis, dies sogar ungeachtet der Tatsache, dass der älteste und westlich gelegene Friedhofsteil des Angenröder Sammelfriedhofs der radikalen Verkleinerung im Zuge der nationalsozialistischen Autokratie unter Hitler zum Opfer fiel.

Erstveröffentlichung:

Dr. Ingfried Stahl, Größter jüdischer Friedhof im Kreis. Dokumentation der israelitischen Ruhestätte in Angenrod. Bedeutender Ort einer lebendigen Erinnerungskultur nicht nur für Angehörige, in: Oberhessische Zeitung, 03.08.2019.

[09.07.2024]