Als die Amerikaner kamen
Das Ende des Krieges und die Besetzung Alsfelds am 30.03.1945

Von Dr. Herbert Jäkel, Alsfeld (1974)

Stimmen unsere Erinnerungen?

Im Jahre 1948 beschloss der Geschichts- und Altertumsverein, die Ereignisse beim Einmarsch der Amerikaner am 30. März 1945 [30.03.1945] sowie das Kriegsende in Alsfeld in Form einer „nachträglichen“ Chronik festzuhalten, um damit eine Quelle für die Geschichte Alsfelds zu schaffen, weil außer mündlichen Überlieferungen keine Unterlagen zur Verfügung standen.

Auf Anregung von Oberbaurat R. Krause wurden seinerzeit 20 Damen und Herren gebeten, ihr „Selbsterlebtes“ und „Selbstgeschautes“ aus jenen Tagen und nicht das nur vom „Hörensagen“ Bekannte in sachgemäßer Darstellung zu berichten. Die persönlichen Einzelschilderungen sollten später zu einer Gesamtdarstellung zusammengefasst werden.

Das scheint nach über 25 Jahren [01] sogar mehr als notwendig zu sein; denn es gab damals keine Zeitungen, die darüber berichten konnten. In den Akten des Stadtarchives gibt es keine Niederschriften oder Belege. Damit existieren also keine zuverlässigen Geschichtsquellen. Die Ereignisse jener schicksalsschweren Tage müssen aber in irgendeiner Form festgehalten werden, weil es sich mit diesem Beitrag einfach um einen Teil der Geschichte der Stadt Alsfeld handelt.

Leider existieren außer der Kriegs-Chronik [Kriegschronik] der Stadt Alsfeld, die Stadtarchivar Karl Dotter begonnen, Bürgermeister Dr. Völsing fortgesetzt und der Mitbegründer des Geschichts- und Altertumsvereins, Julius Waldeck, beendet hat, nur vier Berichte von Oberbaurat Krause, Studienrat Dr. Berg, Oberamtsrichter Engel und Schulrat a.D. Rausch. Jeder hat über das berichtet, was er persönlich erlebt und gesehen hatte. Wie es die Umstände nicht anders zuließen, war es den Berichterstattern nur möglich, einen kleinen Ausschnitt aufzuzeigen. [Seite-50]

Der Verfasser dieser Zusammenstellung, der die Kämpfe um Alsfeld und den Einmarsch der Amerikaner nicht aus eigener Erfahrung kennt, versuchte, aus den o.g. fünf Berichten eine allgemeine Darstellung zu geben. Schon von vornherein ist zu sagen, dass bei der vergleichenden Betrachtung und Auswertung der vorliegenden Berichte, die ja erst nach drei und mehr Jahren aus der Erinnerung einer turbulenten Zeit geschrieben wurden, zahlreiche Unklarheiten zurückblieben und Widersprüche nicht zu klären waren.

Der Verfasser hat daher zusätzlich nach weiteren Informationen gesucht. So haben sich auf Befragen vor allem der damalige 1. Beigeordnete Willi Müller sowie der damalige Stadtinspektor der Stadtverwaltung Heinrich Weber ergänzend geäußert. Auskünfte erteilten gerne und bereitwillig der damalige Melder des Kampfkommandanten von Alsfeld, Karlheinz Schäfer, Frau Schuchard, deren Ehemann beim Landratsamt tätig war, die ehemaligen Angehörigen der Nachrichtenschule in Alsfeld, Reinhold Bergmann und Kurt Krause, Fabrikant Carl-Erich Grünewald, Hans Neurath von der Stadtverwaltung, Frau Köhler, Fritz Lang, Hermann Bender, Hermann Schmelz u.a.m. Ferner stellte das Department of the Army, Center of military history, Washington, freundlicherweise Unterlagen über die Chronologie der Ereignisse zum 30. März 1945 und über die Geschichte der 6. Panzerdivision zur Verfügung.

Trotzdem sind weitere Berichte von Augenzeugen wünschenswert, Ergänzungen angebracht und Berichtigungen erforderlich. Es gibt bestimmt noch genug Einzelheiten, die es wert sind, festgehalten zu werden. Nachdem das Geschehnis bereits über 25 Jahre zurückliegt, wird es allerhöchste Zeit, die Erinnerungen niederzuschreiben, sonst entfallen viele Tatsachen, die dann durch mehr oder weniger viel Dichtung ersetzt werden. Inzwischen dürften auch Ressentiments einer sachlicheren und gerechteren Einstellung zu dem vergangenen Geschehen gewichen sein [02].

Der Weg in die Katastrophe [03]

Das Ende des Dritten Reiches kam sehr schnell. Die Operationen der alliierten Streitkräfte haben Zug um Zug gegen verzweifelt kämpfende deutsche Truppen zu einer Zurückdrängung auf deutsches Reichsgebiet geführt. Im Januar 1945 standen zehn Millionen alliierte und sowjetische Soldaten bereit. Im Westen begannen die Amerikaner und Engländer am 3. Januar die Offensive gegen das Reich. Im Osten traten die Russen am 12. Januar zu ihrem gewaltigen Vorstoß aus dem Weichselgebiet gegen Berlin an. Im Zusammenhang mit unserer Betrachtung soll hier nur eine Übersicht über den Vorstoß der Amerikaner gegeben werden, der auch Alsfeld erreichte. [Seite – 51]

Oberbefehlshaber West wurde am 9. März Generalfeldmarschall Kesselring. Die Heeresgruppe B stand unter Generalfeldmarschall Model, die Heeresgruppe G unter SS-OGrf. Haußer. An der Sieg befand sich im März die 15. Armee unter Zangen, nördlich des Mains die 7. Armee unter Felber.

Auf der anderen Seite operierten die amerikanische 12. Armeegruppe unter dem Oberbefehl von General Bradley mit der 1. US-Armee unter General Hodges und der 3. US-Armee unter General Patton, Ihre Operation „Lumberjack“ war gegen Köln, Bonn und Koblenz gerichtet. Südlich stand die 7. US-Armee, der die Durchführung der Operation „Undertone“, zur Aufgabe gemacht war. Am 7. Februar überschritt die 3. US-Armee die deutsche Grenze.

In dieser Endphase wehrte sich Hitler mit ganzer Grausamkeit gegen das Ende seiner Herrschaft. Am 2. Februar gab die Parteikanzlei die weitere Kürzung der Lebensmittelrationen bekannt. Die 72. und 73. Zuteilungsperiode wurde auf 9 Wochen verlängert. Nachdem die 3. US-Armee am 22. Februar auch die Saar überschreiten konnte, folgten der Erlass Himmlers über die „Sonderstandgerichte“ am 26. und die drastische Kürzung der Lebensmittelrationen am 27. Februar.

Schon Mitte Februar begann die vorbereitende Luftoffensive der Alliierten auf den Bahnverkehr und die Eisenbahnknotenpunkte östlich des Rheins. Systematisch wurden die Anlagen, die dem Nachschub dienten, zerstört. Jabos machten sofort nach den Bombenangriffen Jagd auf die deutschen Arbeitskolonnen, die unmittelbar nach den Zerstörungen unermüdlich dabei waren, die Schäden zu beheben. Auch Alsfeld blieb davon nicht verschont, wie weiter unten berichtet werden soll.

Am 4. März mussten sich die deutschen Truppen über den Rhein zurückziehen. Tags darauf wurde der Jahrgang 1929 zum Wehrdienst einberufen. Fünfzehn- und Sechzehnjährige waren neben dem Volkssturm die letzten Reserven Hitlers. Köln fiel am 6. März. Am 7. März gelang es den amerikanischen Panzerspitzen, die unzerstörte Ludendorff-Brücke bei Remagen zu besetzen. Pattons Panzer erreichten auch den Rhein bei Koblenz.

Hitler tobte über diese Niederlagen. Er ließ die Verantwortlichen zum Tode verurteilen. Der Terror der Partei richtete sich nunmehr gegen das deutsche Volks selbst. Trotz der Durchhalteparolen und der Standgerichte war die Bevölkerung nicht bereit, durch sinnlosen Widerstand den Krieg zu verlängern. Doch Hitler befahl: „Ein harter kriegerischer Korpsgeist muss unter Ablehnung falsch verstandener Kameradschaft jeden Soldaten treffen, der sich seiner harten Pflicht in verräterischer Weise zu entziehen trachtet. Auf Überläufer ist von jedem sofort das Feuer zu eröffnen. Jeder, der nicht schießt, ist zu bestrafen. Jede Gruppe, jeder Zug, jede Kompanie trägt eine moralische Kollektivhaftung für die Haltung jedes einzelnen ihrer Angehörigen“. Und Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, ordnete an: „Für Wehrmachtsangehörige, die in der Kriegsgefangenschaft Landesverrat begehen und deswegen rechtskräftig verurteilt werden, haftet die Sippe mit Vermögen, Freiheit oder Leben“. Aus Bormanns Parteikanzlei ergingen die geheimen Rundschreiben: „Wer auf Grund von Kampfereignissen den Anschluss an seine Einheit verloren hat, hat sich sofort der nächsten, an der Kampffront befindlichen Truppe anzuschließen. Diese Truppe ist jederzeit durch Gefechtslärm zu finden. Der Soldat, der dies nicht tut, ist der übelste Verräter an der Gemeinschaft des deutschen Volkes“ sowie: „Bedingt durch den Massenansturm der Feinde an allen Fronten, mehren sich die Fälle, dass feiges Gesindel versucht, sich vorsätzlich dem Einsatz zu entziehen und fahnenflüchtig zu werden […]. Diese Volksschädlinge müssen rücksichtslos ausgemerzt werden“.

Am 15. März überschritt die 3. US-Armee südlich von Koblenz den Rhein. Die 7. US-Armee begann die Offensive „Undertone“. Die Angriffe der feindlichen Flugzeuge [Seite-52] kamen immer näher an die Front heran, um den Raum dahinter abzuschließen. Eisenhower erklärte als Oberkommandierender die Räume Frankfurt, Mannheim und Ruhrgebiet als Vernichtungszonen und forderte die Bevölkerung auf, diese zu verlassen und sich in bestimmte Sicherheitszonen zurückzuziehen, zu denen auch das Vogelsberggebiet zählte.

Hitler erließ am 19. März den sog. „Nero-Befehl“. Er befahl die Zerstörung aller Anlagen beim Rückzug: „Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebiets, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören“.

Am 21. März erreichte die 3. US-Armee Mainz und Ludwigshafen. Tags darauf gelang ihr bei Oppenheim die Bildung eines kleinen Brückenkopfes. Am 23. begann der weitere Vorstoß. Vom Brückenkopf bei Remagen sollte über Siegen, Gießen und Hanau bis Heidelberg ein riesiger Brückenkopf gebildet werden. So sind die Stoßrichtungen der 1. US-Armee von Remagen nach Südosten und der 3. US-Armee nach Osten zu verstehen.

Pattons Panzer erreichten am 24. März Darmstadt, am 25. März Aschaffenburg, am 26. März Frankfurt am Main und Offenbach. Im Bereich des XX. US-Armeekorps rollte die 6. Panzerdivision ungehindert mit den Kampfkommandos A und B sowie 86 auf der Autobahn nordwärts durch Friedberg, Bad Nauheim und Großen Linden und stieß am 29. März bis Steinbach bei Gießen vor [04]. [Seite-53]

Die 4. Panzerdivision, die im Bereich der XII. US-Armeekorps operierte, preschte über den Vogelsberg bis Lauterbach vor, das am gleichen Tage vom Kampfkommando B erobert wurde, während das Kampfkommando A durch Ulrichstein und Herbstein zog und Großenlüder einnahm.

Der Vormarsch der Amerikaner von Remagen über Limburg und Gießen auf Marburg stieß ebenfalls auf geringen Widerstand. Wetzlar, Gießen und Marburg wurden am 29. März von der 1. US-Armee besetzt. Im Bereich des V. US-Armeekorps erreichte die 9. Panzerdivision am gleichen Tage die Linie zwischen Kirchhain und Kirtorf. Am linken Flügel stieß das Kampfkommando B nach Schweinsberg, am rechten Flügel das Kampfkommando A nach Kirtorf vor.

Am 28. März hatte der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte den folgenschweren Entschluss gefasst und den Operationsplan geändert, dass nicht mehr Berlin, sondern Leipzig das Ziel des Vorstoßes wurde, worüber Montgomery und Churchill sehr wütend waren und Montgomery gesagt hatte: „Ich bin der Meinung, dass wir im Begriff sind, einen schrecklichen Fehler zu begehen!“

Die 1. US-Armee wurde weiter auf Kassel und an die Einkreisung der Heeresgruppe B im Ruhrgebiet angesetzt, während die 3. US-Armee unter Patton mit dem XX. US-Armeekorps in einen kaum mehr verteidigten Raum hineinstieß und dabei der Autobahn in Richtung Eisenach folgte. Ihre 6. Panzerdivision hatte dabei den Durchbruch nördlich von Frankfurt ausgenutzt, war unbarmherzig in Richtung Kassel vorgeprescht und erreichte am 30. März die Eder bei Zennern-Wabern und die Fulda nahe Oberbeisheim, wobei neben zahlreichen Städten u.a. auch Romrod, Alsfeld, Treysa, Borken, Homberg/Efze überrannt wurden [05].

Am 30. März war dabei also auch Alsfeld gefallen, auf das die 6. US-Panzerdivision, deren Kommandeur Generalmajor Robert W. Grow war, angesetzt worden war, aber an der Besetzung keinen Anteil mehr hatte.

Wie die „Chronology“ der US-Armee im zweiten Weltkrieg aufzeigt, brach das Kampfkommando R an diesem Tag in das Gebiet von Remsfeld bei Homberg auf. Die 80. US-Division entließ das 318. Infanterie-Regiment zur 6. Panzerdivision für die motorisierten Verfolgungsoperationen. Das 319. Infanterie-Regiment rückte nach Großen-Buseck vor. Die 65. US-Division, von der kleinere Teile der 6. Panzerdivision angeschlossen wurden, setzte den Übergang über den Rhein fort und folgte in nordöstlicher Richtung der 6. Panzerdivision, um umgangene Widerstandsstellen aufzuräumen. Die 3. Cavalary-Group stieß ebenfalls nach Nordosten vor, um die Operationsziele in der Gegend von Wallenrod-Heblos zwischen Romrod und Lauterbach abzuschließen.

Das XII. US-Armeekorps, das sich bei Hanau nach Nordosten wandte, verfolgte mit der 4. US-Panzerdivision die deutschen Soldaten in Richtung Hersfeld, wobei das Kampfkommando B einigen Widerstand bei Niederaula und Asbach zu überwinden hatte, und musste sich nach einem Angriff auf Hersfeld für die Nacht nach Asbach zurückziehen. Das Kampfkommando A erreichte seine Ziele zwischen Hersfeld und Vacha. Die 90. US-Division, für Verfolgungsoperationen hinter der 4. Panzerdivision eingesetzt, bewegte sich auf die Hauptlinie Rudingshain – Breungeshain – Herchenhain zu [06].

Am 31. März konnte die 6. US-Panzerdivision einen kleinen Brückenkopf bei Malsfeld, südlich Melsungen, über die Fulda bilden, während die 80. US-Division in Richtung [Seite-54] Kassel vorstieß. Die 3. Cavalry-Group wurde zum Vorrücken auf Mühlhausen veranlasst, musste aber nahe an der Fulda durch starke Verzögerungsaktionen halten Die 16. Cavalry-Group kam von der 80. Division zum Korps zurück. Das Gruppenhauptquartier und die 16. Schwadron operierten in der Gegend von Alsfeld-Kassel um die Nordflanke des Korps zu schützen.

Am gleichen Nachmittag stieß die 4. US-Panzerdivision des XII. US-Armeekorps bis Berka an der Werra vor; das Kampfkommando B an der linken Flanke überrannte Hersfeld und das Kampfkommando A an der rechten Flanke hielt die Nacht in Wölfershausen und mit Außenposten in Dankmarshausen an der Werra, während das Kampfkommando R von Herbstein nach Hersfeld nachrückte. Die Regimenter Nr. 357 und 358 der 90. US-Division schlossen hinter der 4. Panzerdivision zur Generallinie Niederjossa-Kruspis-Großenmoor auf. Am linken Flügel der 11. US-Panzerdivision rückte das Kampfkommando B von Nieder-Seemen nach Großenlüder vor und wurde bis Reichlos gefolgt vom Kampfkommando R, während die 26. US-Division in Richtung Fulda zog [07].

In den ersten Apriltagen überschritt die 6. US-Panzerdivision die Fulda, besetzte am 4./5. April Mühlhausen, nahm am 5. April Eisenach ein und stieß über Leipzig, das am 19. April eingenommen wurde, noch bis zur Mulde vor (15. April), wo sie bis zum Ende der Kampfhandlungen eine Verteidigungsposition einnahm.

Nachdem es den Sowjetrussen gelungen war, am 25. April die Reichshauptstadt Berlin einzuschließen, entzog sich Hitler durch Selbstmord am 30. April der Verantwortung. Die deutsche Wehrmacht musste schließlich in auswegloser Lage am 7. Mai 1945 [07.05.1945] die Gesamtkapitulation hinnehmen. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches war total. [Seite-55]

Luftangriffe auf Alsfeld

Nachdem es Mitte März 1945 den Amerikanern gelungen war, den Rhein an mehreren Stellen zu überschreiten, rollte ihr Angriff rasch vorwärts. Ständige Luftangriffe, vor allem die lästigen und bösartigen Tieffliegerangriffe, wurden zunehmend der Schrecken auch der seither verschont gebliebenen und abgelegenen Landstriche. Man war auf den Straßen nicht mehr sicher. Der Bauer wagte sich kaum noch auf sein Land. Auch Alsfeld blieb nicht mehr verschont.

Schon am 10. Februar 1945 hatte ein feindliches Flugzeug mit Bordkanonen den Bahnhof Alsfeld angegriffen, wobei mehrere Häuser in der Hochstraße getroffen wurden.

Am 22. Februar erlebte Alsfeld nach stundenlangem Fliegeralarm gegen 13.30 Uhr den schwersten Angriff durch einen Verband von 14 amerikanischen Bombern vom Typ „Thunderbolt“. Die in den Lockheed-Werken hergestellten schwerbewaffneten Jagdbomber waren von der US-Airbase Differdingen in Luxemburg gestartet. Die Piloten hatten die Aufgabe erhalten, die Nachschubwege zwischen Gießen und Fulda anzugreifen. Als sie an Alsfeld vorbeiflogen, entdeckten sie auf dem Bahngelände zwei Munitionszüge, die vollbeladen aus dem Munitionslager bei Grebenhain im Vogelsberg gekommen waren. Sie formierten sich sofort zum Angriff und griffen im Tiefflug über die Leuseler Höhe an. Die Feindflugzeuge wurden von der Vierlingsflak der Munitionszüge und der Abwehrbatterie, die in der Nähe des Lokschuppens stand, unter heftigen Beschuss genommen und daher abgedrängt. Ihre Bombenlast fiel meist südlich und westlich entlang der Bahnlinie in das Stadtgebiet und verteilte sich von der Brauerei und dem Krebsbachgebiet bis zum Krankenhaus. Am schwersten wurden die Häuser am Schützenrain, in der Hohl und am Lieden getroffen. In das Gelände der Weberei Grünewald am Schützenrain fielen 10 bis 12 Bomben, drei trafen das 1670 erbaute Wohnhaus, das bis auf die Rückwand zusammenfiel. Die Bewohner überlebten die Totalzerstörung in dem mächtigen gewölbten alten Keller, während daneben ein 15 m breiter Bombentrichter entstanden war. Auch auf der anderen Seite wurden Häuser zerstört. Das Gebäude des früheren Anwesens Ramspeck am Ludwigsplatz erhielt zwei Volltreffer, wobei es zwei Tote gab. Auch der angrenzende Saalbau des ehemaligen Hauses „Vaterland“ in der Hohl wurde durch Bombentreffer schwer beschädigt. Die Lackfabrik Diegel, auf die der Benzintank eines abgeschossenen Flugzeuges stürzte, geriet in Brand und brannte mehrere Tage. Die Gärtnerei Mey büßte sämtliche Gewächshäuser ein. Bomben fielen in die Hohl, in den Brillschen Garten bis hin in die Rambach kurz vor das Krankenhaus. Am Lieden und am Mainzer Tor wurden weitere Häuser erheblich getroffen, und zwar durch Luftminen. Eine Bombe schlug in den Garten des Hauses Neufeld, eine andere in den Garten zwischen dem Hause Weitz und dem Gemeindehaus und zerstörte die gegenüberliegende Langsche Scheune am Lieden. Eine dritte Mine soll in dem Durchardtschen Garten hinter der Stadtmauer tief im aufgefüllten ehemaligen Stadtgraben liegen, sie sei nicht mehr gefunden worden. Ferner wurden das Gebiet des Güterbahnhofes, die Gleisanlagen und die Brauerei getroffen, vor allem die Mälzerei, in der eine Heeresdruckerei Generalstabskarten herstellte. Die RAD-Unterkunft an der Jahnstraße wurde ebenfalls zerstört. Das Wiesengelände bis zum Bahndamm hin war völlig umgepflügt. Der ganze Angriff hatte keine zehn Minuten gedauert.

Insgesamt wurden 120 Sprengbomber schweren und schwersten Kalibers abgeworfen, die glücklicherweise zum größten Teil in Gärten fielen, wo sie riesige Trichter aufrissen. Neben den Totalverlusten an Gebäuden hatten etwa 130 Häuser der Stadt Beschädigungen erlitten, hauptsächlich an Dächern und Fensterscheiben. Die Aufräumungsarbeiten dauerten mehrere Tage, wobei auch auswärtige Handwerker eingesetzt [Seite-56] werden mussten. Da auch die Wasserleitung getroffen wurde, musste das Wasser mit dem Wasserwagen in die betroffenen Stadtteile gefahren werden.

Dem Angriff fielen acht Personen zum Opfer, 14 wurden verwundet. Einem älteren Mann, der den rettenden Fußgängertunnel an der Marburger Straße nicht mehr erreichen konnte, wurde von einem Granatsplitter der Kopf abgerissen.

Zwei der angreifenden Jagdbomber wurden abgeschossen. Ein Flugzeug stürzte an der alten Liederbacher Straße oberhalb des Hauses Kittelmann ab, dessen Pilot sofort tot war. Das andere Flugzeug zerbarst am Friedhof, wobei Teile auf die Lackfabrik Diegel fielen, die in Flammen aufging, andere Teile durchschlugen das Hallendach des Sägewerkes Sondermann & Bücking, wiederum andere Teile, vor allem der Rumpf, lagen an der Bahnlinie am Berggässchen. Der Pilot, der sich mit dem Fallschirm retten konnte, wurde in der Nähe des Berggässchens entdeckt, gefangengenommen und zur Polizeiwache ins Weinhaus gebracht. Es ließ sich nicht eindeutig klären, wo und unter welchen Umständen er gefunden wurde. Es gingen auch die Meinungen auseinander, ob es ein amerikanischer oder englischer Offizier war. Er war wohl verletzt, wie die blutigen Gurte am Flugzeugführersitz vermuten lassen. Fest steht, dass er nach einem grausigen Verhör durch aufgebrachte Vertreter der Wehrmacht und der Partei in einer Arrestzelle der Polizeiwache eingesperrt und erschossen wurde. Bei späteren Untersuchungen durch alliierte Offiziere fand man zwei Einschüsse in der Wand, bei der Obduktion eine Kugel aus einer Pistole 08. Erst nach einer Woche konnte der Tote bestattet werden, nachdem der Totenschein von einem Arzt aus dem Lazarett ausgestellt worden war, auf dem als Todesursache Schädelzertrümmerung angegeben wurde. [Seite-57]

Der Schützenrain in Alsfeld nach dem Bombenangriff am 22. Februar 1945
© Jakob Hartmann

Einer der Piloten, der damalige Fähnrich Ernest Tuckey aus Denver, der einen der 14 Jagdbomber geflogen hatte und durch Beschuss am Bein verletzt worden war, hatte nach dem Kriege Alsfeld besucht.

Am 17. März warf um 13 Uhr ein feindliches Flugzeug 5 Spreng- und 150 Brandbomben, die wohl der Eisenbahnbrücke galten, aber das Brauereigebäude trafen. Die Mälzerei, in der auch die RAD-Leute aus dem gegenüberliegenden Lager Sicherheit suchten, erhielt zwei Volltreffer. Darrgebäude, Stall und Portierhaus wurden völlig zerstört, ein RAD-Mann und ein Pferd getötet. Eine RAD-Baracke auf der anderen Seite ging in Trümmer. Die Bombentrichter hatten 12 Meter Durchmesser.

Am 25. März brannte gegen 5 Uhr aus unbekannter Ursache die Werkstatt des Schmiedes Karpf in der Altenburger Straße ab.

Am gleichen Tag flog der Bahnhof Ehringshausen in die Luft, nachdem schon mehrmals Angriffe längs der Bahnlinie und Autobahn erfolgt waren. Ein aus allen Rohren feuerndes Feindflugzeug traf zwei mit Dynamit beladene Waggons, durch deren Explosion vom Bahnhofsgebäude nichts außer einer Kraterlandschaft übrigblieb.

Auch auf der Eisenbahnstrecke Alsfeld-Hersfeld fanden wiederholt Angriffe statt, wobei ebenfalls Menschenleben zu beklagen waren, unter ihnen der Postschaffner Scharmann aus Alsfeld. Ansonsten ließ in den letzten Tagen die Lufttätigkeit erheblich nach.

Die letzte Alsfelder Zeitung erschien am 27. März mit der Nr. 73 und nur noch mit einem Blatt. Im Wehrmachtsbericht war zu lesen, dass amerikanische Panzerkräfte Hanau und Aschaffenburg erreicht hätten.

Das durch Bomben zerstörte Wohnhaus Grünewald am Schützenrain in Alsfeld
© Jakob Hartmann

[Seite-58]

Neue Verteidigungszone um Alsfeld

In der Nacht vom 27. auf 28. März versetzte die Nachricht vom Nahen der Amerikaner die Bevölkerung von Alsfeld in große Aufregung. Die 3. US-Armee unter General Patton hatte am 21. März Mainz und Ludwigshafen, am 25. März Darmstadt und am 26. März Frankfurt am Main erobert. Die Panzerspitzen der 1. US-Armee, der am 7. März die unzerstörte Ludendorff-Brücke bei Remagen in die Hände fiel, standen bereits im Raume Gießen, am 29. März wurden Wetzlar, Gießen und Marburg besetzt. Seit Tagen machte sich der fluchtartige Rückzug der Deutschen mit all seinem Grauen bemerkbar. Unaufhörlich rollten Personen- und Lastwagen durch Alsfeld und auf der Autobahn in Richtung Hersfeld und Kassel, ständig den Tieffliegerangriffen ausgesetzt. Seit dem 25. März kamen Flüchtlinge und Verwundete der Lazarette aus dem Rheinland. Etwa 14 Tage zuvor waren Insassen eines Konzentrationslagers in gestreiften Anzügen durch Alsfeld gekommen. Drei bis vier Tage zuvor waren es Parteileute gewesen. Menschen fluteten zurück. Ja, sie kamen auch aus dem Osten auf der Flucht vor den Russen. Soldaten zogen einzeln und in Trupps, Reste einer sich auflösenden Wehrmacht, durch Alsfeld immer weiter nach Osten in Richtung Hersfeld, wo der einzige Ausweg zu bestehen schien. Viele Alsfelder boten ihnen eine kleine Erfrischung oder Quartier. Ein Teil der Bevölkerung floh schließlich mit, die wertvollste Habe mit sich führend. Der andere Teil schlug die Betten in den Schutzräumen der Keller auf, wohin man auch die wertvollsten Gegenstände im Koffer sicherte und bereit hielt. An den Bahnhöfen wurden die letzten Wehrmachtsbestände verteilt, in Alsfeld Margarine, Eier und Bismarckheringe, in Grebenau Tabakwaren, in Eifa zapfte man Flugzeugbenzin aus Kesselwagen am Bahnhof ab. Abgestellte Getreidewagen wurden noch schnell zum Kornhaus rangiert. Es waren chaotische Zustände.

Schon am Samstag, dem 24. März, war Bürgermeister Dr. Völsing und Stadtinspektor Weber vertraulich durch einen Angehörigen des Wehrmeldeamtes mitgeteilt worden, dass auf Befehl des Oberbefehlshabers West Alsfeld in eine neue Verteidigungszone einbezogen werden sollte. Allgemein wurde geraunt, dass eine „Vogelsbergfront“ aufgerichtet werde.

Am Mittwoch, dem 28. März, an dem auffallenderweise der Rückstrom von Flüchtlingen und Soldaten etwas verebbte, hoben alle Leute ihr Geld ab und schwirrten viele Gerüchte durch die Stadt.

Wie im Wehrmeldeamt von einem Generalstabsoffizier Dr. Völsing und H. Weber erklärt wurde, sollte Alsfeld verteidigt werden, und zwar mit Hilfe von drei Sperrgürteln, an der Autobahnbrücke bei der Pfefferhöhe, in der Stadt und an der Autobahnbrücke im Eifatal. Die beiden genannten Brücken und die Eisenbahnbrücke an der Straße nach Eifa sollten daher gesprengt werden. Der Volkssturm wurde beauftragt, an der Marburger und Grünberger Straße Straßensperren zu errichten. Von dieser Stunde an sei ein Oberstleutnant, mit dem Ritterkreuz dekoriert, Kommandant in Alsfeld. Auf die Frage des Bürgermeisters nach Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung wurde lediglich geantwortet, dass es dieser freigestellt sei, in die Keller oder in die Wälder zu gehen.

Die Bevölkerung geriet in große Erregung, als bekannt wurde, dass der Standortkommandant sowie der kommissarische Landrat Legau beabsichtigten, die Stadt tat sächlich „bis zur letzten Patrone“ verteidigen zu wollen. Der Bürgermeister hätte lieber die Stadt kampflos übergeben, um Zerstörungen und Menschenverluste zu vermeiden, konnte sich aber nicht durchsetzen. Er empfahl deshalb in einer Ansprache [Seite-59] auf dem Marktplatz der Bevölkerung, die Stadt zu verlassen. Ein vertraulich befragter erfahrener Frontoffizier meinte dagegen, dass es wegen des Fehlens von Abwehrkräften nur etwas Geplänkel vor der Stadt gebe und alles schnell vorbei sei, daher wäre es besser, sich in den Kellern aufzuhalten.

Schon am Dienstag war Feldwebel Krause mit einem Zug der in Alsfeld seit Herbst 1944 stationierten Nachrichtenschule von etwa 30 Mann zum München-Berg [Müncheberg] beordert worden, um sich dort in einer Igelstellung einzugraben. Da die Soldaten schon bei 60 cm auf Grundwasser stießen, gruben sie sich neben der Straße ein. Am Mittwoch erhielt die Gruppe den Befehl, zur Pfefferhöhe zu ziehen. An der Brauerei kamen deutsche Soldaten bereits zurück. In den Kellern der Brauerei wurde Wein geplündert, gegenüber im RAD-Lager Schuhe – allerdings war es bereits unmöglich, zwei gleiche Schuhe zu finden. Der Zug hatte schließlich in dem Wald an der Pfefferhöhe und bei dem Waldhäuschen Stellung bezogen, bewaffnet mit Gewehren, Panzerfäusten und Maschinengewehr.

Der Volkssturm, dessen Kommandant Landrat Legau war, wurde am Mittwoch, dem 28. März, durch Sirene mobilgemacht, doch, da keine Waffen und vor allem keine Uniformen da waren, wieder nach Hause geschickt, damit die Männer nicht in den Verdacht gerieten, Partisanen zu sein. Nur einige Männer fällten an der Marburger und Grünberger Straße mehrere Bäume, die, quer über die Straße gelegt, als Straßensperren dienen sollten.

Die amerikanischen Truppen waren bereits in der Gegend von Grünberg, wie in der Nacht vom 28. auf 29. März gemeldet wurde. Die Nacht war ruhig. Auch die Luftwaffe ließ die Stadt unbehelligt. Die Militärpersonen wurden vom Kampfkommandanten erfasst, die Angehörigen der Nachrichtenschule des OB West, des Wehrmeldeamtes, der Fliegereinheit wurden mit versprengten Soldaten vereint. Die Bewaffnung war allerdings sehr bescheiden. Munition, Panzerfäuste und Sprengstoff scheinen gerade noch aus dem Munitionslager Allendorf geholt worden zu sein. Junge Kerlchen von 16 bis 17 Jahren wurden in einer Viertelstunde in der Handhabung der Panzerfaust ausgebildet.

Als der Gründonnerstag (29. März) mit Regen hereinbrach, zogen weitere Einheiten ab, so die Geheime Staatspolizei Frankfurt, die zwei Tage zuvor ihr umfangreiches Gepäck im Hochzeitshaus abgestellt hatte, und die beiden Arbeitsdienstabteilungen. Dafür kam Verstärkung durch eine Infanteriekompanie, etwa 120 Mann. Sie wurde von einem forschen und jungen Leutnant mit Ritterkreuz geführt. Die Soldaten in Tarnkleidung waren schwer bewaffnet und sollten von einer Sondereinheit aus Schwarzenborn stammen. Sie lösten den Zug der Nachrichtenschule an der Pfefferhöhe ab, der dafür in Altenburg Stellung bezog.

Morgens war der Feind bereits bei Romrod gesichtet worden. Zwei amerikanische Gefangene, vermutlich Kanadier, wurden durch die Obergasse in das Wehrmeldeamt, aber gleich weiter nach Osten gebracht.

Im Weinhaus herrschte große Unruhe. Kampfkommandant, Landrat und etwa 10 Mann waren mit den Generalstabskarten beschäftigt, nahmen Meldungen entgegen und gaben Befehle. Es gab Kuriositäten, wie Telefongespräche mit Grünberg, wo bereits die Amerikaner waren, ja selbst die Amerikaner gerieten verschiedentlich in die Leitung. Ein Kommando von Pionieren aus Hersfeld sprengte die schon genannten Brücken. Ein Feldwebel legte Donnerstag früh die Sprengung an. Mit lautem und weit hörbarem Knall flogen die Brücken in die Luft. Der Feind wurde dadurch aber kaum aufgehalten. [Seite-60]

In der Stadt wurden Panzerfäuste abgeladen und wie z.B. in der Schellengasse beim Hause Stumpf gestapelt. Zwei Geschütze, Panzerabwehrkanonen oder Flakgeschütze, standen noch zur Verteidigung der Stadt bereit. Sie waren in der Nähe des Schlachthauses und am Burgmauerweg in Stellung gegangen, wo sie auch noch lange lagen. Sie verfügten über genügend Munition und waren auf die Autobahn gerichtet.

Der Feind scheint bei Romrod sich abwartend verhalten zu haben. Wie aus einem abgefangenen Funkspruch der Amerikaner entnommen werden konnte, wollten die Amerikaner drei Panzersäulen auf Alsfeld ansetzen. Noch für den 29. März wurde ihr Angriff erwartet, doch der Gefechtslärm war nur aus weiter Ferne zu hören. Von einem zum anderen Tag war Alsfeld zum Kriegsschauplatz geworden. Am Nachmittag hatte Brauerschwend feindlichen Beschuss aus Richtung Reuters/Lauterbach.

Es wurde brenzlig. Die Parteileute setzten sich bereits ab, ebenso die SS-Wachen. Die Ämter und Geschäfte waren geschlossen. Es herrschte beinahe Totenstille. Als der Bürgermeister einen Offizier des Stabes des Kampfkommandanten fragte, was geschehen würde, wenn er die weiße Fahne hisse, erhielt er zur Antwort: „Dann sind Sie in zwei Minuten eine Leiche“. Abends verließ auch der Bürgermeister die Stadt, da er einen nächtlichen Beschuss befürchtete. Stadtinspektor Weber sollte als Verbindungsmann zum Kampfkommandanten fungieren. Wachen standen an der Grünberger und Marburger Straße beim Haus Holschuh. Doch vom Feind war nichts weiter zu sehen. Erst in der Nacht erfolgte der erste Artilleriebeschuss und zwar von Verbänden, die auf der Höhe zwischen Lauterbach und Reuters Stellung bezogen hatten. Es war leichtes Störungsfeuer, das aber auch in Alsfeld und Altenburg Schaden anrichtete. Ein Spähtrupp der Nachrichtenschule, der in der Nacht von Altenburg durch den Wald in Richtung Hopfgarten die Stellung des Gegners erkunden wollte, hatte allerdings keine Feindberührung. In der Nacht war nach den Erfahrungen sowieso mit einem Angriff der Amerikaner nicht zu rechnen. Doch während der bangen Nachtstunden, die die meisten Alsfelder in ihren Luftschutzkellern verbrachten, wurde manche Schreckensnachricht von Ohr zu Ohr geraunt. Amerikanische Bomber sollten bereits angefordert worden sein, um die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Das Schießen der amerikanischen Artillerie aus Richtung Romrod war deutlich zu hören. Eine Delegation Alsfelder Bürger, unter ihnen der alte Lehrer Dollinger, machte den nicht ungefährlichen Bittgang zum Ortskommandanten, um die Verteidigung der Stadt zu verhindern und ihre kampflose Übergabe zu erwirken. Furchtbar war die Ungewissheit, was eigentlich los war, und was am folgenden Tag geschehen werde. Nachts um ½2 Uhr verließ der Landrat mit vollgepacktem Wagen die Stadt. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP klaute ein Motorrad und machte sich ebenfalls aus dem Staub.

Panzer fahren auf

Am Karfreitag, dem 30. März 1945, der wieder mit Regen begann, aber ab Mittag auch besseres Wetter aufwies, kamen gegen 7 Uhr Meldungen, dass die Amerikaner mit 30 Panzern und aufgesessener Infanterie im Romröder Wald gesichtet worden seien. Damit begann die Knallerei. Der Gefechtslärm kam näher. Ununterbrochen war MG-Feuer zu hören. Die deutschen Soldaten an der Pfefferhöhe zogen sich vor der Übermacht eilends zum Altenburger Schloß zurück, wo sich der Hauptgefechtsstand des Majors Wolf von der Nachrichtenschule befand. Jabos griffen im Tiefflug ein. Die ersten an der Pfefferhöhe auftauchenden Panzer, die die gesprengte Autobahnbrücke umgingen, schossen nach Altenburg, wo man die Funkstelle sofort ausgemacht hatte. Die Schlossmauer wurde getroffen, zahlreiche Häuser wurden beschädigt. Auch Liederbach hatte das Schlimmste zu befürchten, da sich hier ebenfalls Soldaten eingegraben [Seite-61] hatten, zum Teil in nächster Nähe der Siedlung, und mit Granatwerfern und Maschinengewehren verteidigen sollten. Dem Bürgermeister, Karl Meß, gelang es, den Abzug der Deutschen und die kampflose Übergabe an die Amerikaner zu erreichen. Auf Liederbacher Boden sind aber vorher 14 deutsche Soldaten gefallen, darunter einige der Nachrichtenschule Alsfeld. Aus dem Gänsberg hallte weiteres MG-Feuer. Hierhin hatte sich die von dem Leutnant geführte Kompanie über Oberrod zurückgezogen. Ober das Waldgebiet hinter dem Altenburger Sportplatz verließen schließlich auch die letzten deutschen Soldaten Altenburg und das Schloss, als die amerikanischen Panzer auf der Autobahn und über Liederbach durch das Alsfelder Becken vorrückten.

Gleichzeitig waren zahlreiche amerikanische Panzer auf der Westseite der Stadt aufgetaucht. Sie kamen über den Kreisch zur Leuseler Höhe, über Leusel und den München-Berg in Richtung Münch-Leusel. Sie umgingen die Stadt damit auf der Nordseite. Die Panzer fuhren nicht nach Alsfeld hinein, sondern stellten sich vor allem auf der Autobahn, auf der Leuseler Höhe bis zum Friedhof auf, alle Rohre auf Alsfeld geschwenkt. Die deutschen Beobachtungsposten mussten sich in die Stadt zurückziehen.

Nach fast 300 Jahren stand wieder ein Feind vor den Toren der Stadt, der fast auf der gleichen Seite seine Geschütze aufgestellt hatte. Am 30. September 1646 [30.09.1646] war Generalmajor Geiso mit 12 Kartaunen und 2 Feuermörsern erschienen, belagerte und beschoss die Stadt so schwer, dass nach dem Generalsturm die Verteidiger wegen Mangels an Munition und Nutzlosigkeit des Widerstandes die Kapitulation beschlossen. Die damaligen Schäden durch Beschießung und Zerstörung (76 Wohnhäuser und 54 Scheunen gingen in Flammen auf; 150 Wohnhäuser und 26 Scheunen der Vorstädte wurden eingerissen), durch Plünderungen und Einquartierungen waren so beträchtlich, dass Alsfelds Entwicklung für mehr als 150 Jahre gehemmt war.

Am 30. März 1945 begann der Kampflärm vor den Toren der Stadt gegen 8.30 Uhr. Ein Panzer war über das Hochstraßengebiet zur Marburger Straße gefahren. Am Eingang zum Luftschutzkeller der Firma Bücking, dem ehemaligen Eiskeller an der Marburger Straße, hing die weiße Fahne. Hier erfuhren, wie berichtet wird, Frau Wilsing und Frau Röder von amerikanischen Offizieren, dass sie wegen des Widerstandes in Alsfeld den Einsatz von Flugzeugen angefordert hätten, um die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Der Funkspruch war von einem deutschen Offizier abgefangen worden. Später hatten auch 1. Beigeordneter Müller und Stadtinspektor Weber von Offizieren der Besatzungstruppe das gleiche Urteil gehört. Dass glücklicherweise durch Verzögerungen bei der Befehlsweitergabe der Einsatz der Jagdbomber sich hinauszog, hat die Stadt vor ihrem Untergang bewahrt, nicht zuletzt auch durch die Tatsache, dass gegen Mittag der Widerstand auf Grund der erdrückenden Übermacht der Amerikaner aufgegeben wurde.

Straßenkämpfe

Von der Marburger Straße aus drangen die Amerikaner schließlich in die Stadt hinein. Ihr Vorstoß erfolgte sehr vorsichtig und langsam. Die Bevölkerung, die ja in den Kellern wartete, hörte in der Hauptsache MG- und Gewehrfeuer, das näher kam und gegen 9 Uhr wild wurde, dazwischen aber auch stärkere Abschüsse, wohl von Panzern herrührend. Die deutsche Artillerie am Schlachthaus und Burgmauerweg schoss in Richtung Autobahn auf die dort stehenden Panzer, die die Stadt von der anderen Seite bedrohten. Ein Nahaufklärer kreiste über der Stadt, gelegentlich sogar sehr niedrig. Vom Marktplatz aus soll er von deutschen Soldaten beschossen worden sein, die dazu zwei erbeutete leichte amerikanische Maschinengewehre benutzt hätten. [Seite-62]

Zwischen 9.00 und 9.30 Uhr schoss ein Panzer, der auf der Leuseler Höhe zwischen Marburger Straße und Friedhof stand, über die Vertiefung der Hohl zwei gezielte Schüsse auf den Turm der Walpurgiskirche, wodurch am oberen Umgang Teile des Mauerwerkes abgerissen wurden. Man nahm an, dass der Feind dort eine deutsche Beobachtungsstation vermutete. Wahrscheinlich dürfte aber dieser Schuss auch zu jener Methode gehört haben, die General Patton in einem Brief als „Third Army War Memorial Projekt“ bezeichnet hat: „Jede Stadt, der wir uns näherten, belegten wir, noch bevor wir sie zur Übergabe aufforderten, mit ein paar Granaten. Wir wollten damit den Einwohnern Gelegenheit geben, künftigen deutschen Generationen den Beweis zu hinterlassen, dass die 3. Armee durch die Stadt gezogen ist“.

Die amerikanischen Panzer fuhren langsam links und rechts die Marburger Straße hinunter. Vor dem Bahnübergang wurden sie heftig beschossen. Von der Einmündung der alten Bahnhofstraße soll ein deutscher Offizier mit der Panzerfaust auf einen Panzer geschossen haben. Vor dem Hause Sondermann und Bücking wurde ein farbiger amerikanischer Soldat tödlich getroffen – er lag dort noch drei Tage, mit einem Tuch bedeckt. Auf den Schienen stehend, schoss ein Panzer wie wild um sich. Brand- und Sprenggeschosse richteten erhebliche Schäden an den benachbarten Häusern an. Die beim Bombenangriff am 22. Februar nur leicht beschädigte Grünewaldsche Fabrik ging in Flammen auf, als Brandgeschosse das Warenlager trafen. Das Gottwaldsche Haus erlitt vor allem am Erker Beschädigungen, im Haus daneben brach ebenfalls durch Brandgeschosse Feuer aus, im Schuchardschen Haus entdeckte man später die Spuren von Brandgeschossen und 10 Einschüssen in Wänden und Möbeln; bei weiteren Häusern sah es ähnlich aus. Am Hofgebäude Ludwigsplatz 1 war eine Panzergranate durch ein Erdgeschoßfenster eingeschlagen; eine zweite hatte Ludwigsplatz 4 getroffen und eine dritte war im ersten Stock der Bäckerei Bender in der Schellengasse gelandet.

Als sich deutsche Soldaten vom unteren Ende der Marburger Straße aus hocharbeiten wollten, wurden auch sie beschossen. Dabei trafen die Explosivgeschosse die Stadtmauer und das danebenstehende Haus.

Auch von der Grünberger Straße scheint nunmehr der Gegner eingedrungen zu sein. Am Eingang der Stadt gab es auch hier Schusswechsel. Das Wohnhaus Leidner erhielt Einschüsse. Der Stall des Gasthauses „Zum Anker“ brannte ab, wobei die drei letzten Pferde der Brauerei in den Flammen umkamen. Im Schutze der Panzer drangen Infanteristen vor, die in offenstehende Fenster schossen und die Häuser bereits durchsuchten. Ein Alsfelder, namens Karl Günther, der sich auf dem Wege zu dem Landwirt Battenberg in der Grünberger Straße befand, wurde tödlich getroffen.

Die deutschen Soldaten zogen sich wieder weiter zurück, zuletzt zum Kampfkommandanten, dessen Name mit Major Alm angegeben wird. Dieser sei Infanterist gewesen, forsch, 30-35 Jahre alt und erst zwei oder drei Tage zuvor gekommen. Er hatte seinen Gefechtsstand im Keller des Weinhauses eingerichtet. Hier am Marktplatz versammelten sich die letzten Verteidiger. Ein amerikanischer Spähwagen, so wurde berichtet, sei vom Mainzer Tor über Rossmarkt und Untergasse zur Hersfelder Straße gerast, vielleicht waren es auch zwei Spähwagen. Der Versuch, diesen am Kreuz zu erwischen, schlug fehl. Dem Kampfkommandanten wurde noch gemeldet, dass sich etwa 70 amerikanische Infanteristen hinter der Stadtmauer am Mainzer Tor gesammelt hätten. Als sich einige von ihnen in der Mainzer Gasse zeigten, wurden sie zurückgedrängt. Ein am Mainzer Tor eingedrungener Panzer soll durch Panzerfaust vom Rossmarkt aus getroffen worden sein. Man habe ihn gleich abgeschleppt. Durch Schusswechsel seien am Rossmarkt, etwa bei Römer und Kober, amerikanische Soldaten getötet worden. [Seite-63]

Gegen 11 Uhr fuhr der erste amerikanische Panzer in die Mainzer Gasse hinein und blieb vor der Metzgerei Knierim stehen, von wo er gegen das Rathaus schoss, hinter dem sich die letzten Verteidiger zum Rückzug bereit machten. Die Geschossgarbe zerstörte eine Säule in der Rathaushalle und traf den Bogen über der Eingangstüre.

Der Kommandant gibt auf

Um zum Rückzug Zeit zu gewinnen, hatte ein Offizier der Verteidiger, gedeckt hinter dem linken Eckpfeiler des Rathauses, eine Panzerfaust blind in Richtung Mainzer Gasse abgefeuert. Am 1. Stock des Hochzeitshauses explodierte das Geschoß mit einer mächtigen Staubwolke und einem Höllenkrach, so dass die Beteiligten selbst sehr erschrocken waren. Darauf setzte sich die Gruppe über Kirchplatz, Amtsgericht und Grund in die Steinkaute ab. Hier beobachtete sie bis zum Einbruch der Dunkelheit die Weiterfahrt der Panzer auf der Autobahn bzw. über die Straße nach Eudorf, auf der sie es besonders eilig hatten. Im Schutze der Nacht brachten sich die verbliebenen 30 deutschen Soldaten weiter nach Osten in Richtung Hersfeld in Sicherheit.

Häuser werden durchkämmt

An vielen Häusern waren bereits bei Eintreffen der Amerikaner weiße Fahnen und Betttücher ausgehängt worden. Wo sie hingen, standen demnach die Amerikaner. Im Schutze der Panzer pirschten sich die Infanteristen von Straßenecke zu Straßenecke und durchsuchten die Häuser. Während die Panzer ihre Rohre auf das Haus richteten, drangen die Soldaten in Vorder- und Hintereingänge ein. Wo Türen verschlossen waren, wurden sie mit den Gewehrkolben aufgebrochen oder die Schlösser durch Schüsse geöffnet. Da nur nach versteckten Soldaten und Gefangenen gesucht wurde, blieb die Zivilbevölkerung verschont. So wurde Straßenzug um Straßenzug durchkämmt. Am Marktplatz sah man etwa 6 bis 8 amerikanische Soldaten, wie sie von Haustürnische zu Haustürnische im Schutze der Häuserwände vordrangen. Ähnlich hatte man es am Amtsgericht beobachtet, wo vom Kirchplatz her etwa die gleiche Zahl Soldaten mit schussbereiten Waffen links und rechts in alle Hauseingänge eindrang. Da der Inhaber des Gemischtwarengeschäftes Heinrich Müller aus Vorsicht und Ängstlichkeit seine Haustüre und Läden fest verschlossen hatte, schlugen sie Türen und Fenster mit Gewehrkolben ein und durchsuchten das Haus umso gründlicher. Bei dem Panzer am Mainzer Tor saßen die Amerikaner ängstlich und dicht an der Hauswand auf dem Bürgersteig und begannen bereits ihre Portionen zu essen. Bei manchen Häusern hatten sie schon nach Essbarem und Schnaps gesucht. Willi Müller hatte gehört, dass die Amerikaner Alsfeld als „a little and nice town“ bezeichnet haben.

Damit waren die Kampfhandlungen in Alsfeld glücklich vorbeigegangen und glimpflich überstanden. Gegen 12.30 Uhr konnte die Bevölkerung aufatmen, sie wurde allerdings in den Häusern festgehalten. Wer in einem öffentlichen Schutzraum, wie im Eiskeller oder Kasino, war, musste dort bis 15.30 Uhr bleiben, während man die Polen schon gegen 14 Uhr herausließ. Plünderungen setzten ein, so z.B. in der Firma Bücking und vor allem dort, wo die Häuser leer standen. Die Kriegsgefangenen sollen sich allerdings nach ihrer Befreiung recht anständig verhalten haben.

Mit Mühe und Not versuchte man, die in Brand geratenen Gebäude zu löschen. Schon während der Schießerei am Bahnübergang war ein Bewohner der Marburger Straße mit einer weißen Fahne zum Marktplatz geeilt, um die Feuerwehr zu holen; denn die [Seite-64] Weberei Grünewald stand in hellen Flammen. Die Nachbarn, die sich schließlich ab 12.30 Uhr aus den Kellern wagten, versuchten vergeblich, den Brand zu bekämpfen. Das Werk brannte mit allen Webstühlen und dem gesamten Stofflager im Werte von einer viertel Million Mark nieder. Als später einige Feuerwehrleute löschen wollten, wurden sie von den Amerikanern mit vorgehaltener Waffe daran gehindert. Zwischen 14 und 15 Uhr brach auch noch in der Raabschen Scheune an der Altenburger Straße Feuer aus. Wie man feststellte, war bereits in der Nacht zuvor die Scheune durch Brandgeschosse getroffen worden. Sie brannte nieder, ehe man die alte Turnerspritze richtig einsetzen konnte.

Proklamation Eisenhowers

Sofort begannen die Amerikaner, Maßnahmen für die Bevölkerung zu ergreifen. Der Kappenmacher Bastian aus der Mainzer Gasse, den die Amerikaner geschnappt hatten, als er sich auf der Straße zeigte, musste nach kräftigem Schellengeläut vor dem Zigarrenladen Hofen am Ludwigsplatz die Proklamation des Generals Eisenhower an die Bevölkerung vorlesen:

„An das deutsche Volk:

Ich, General Dwight D. Eisenhower, Oberster Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte, gebe hiermit Folgendes bekannt:

I.
Die Alliierten Streitkräfte, die unter meinem Oberbefehl stehen, haben jetzt deutschen Boden betreten. Wir kommen als ein siegreiches Heer; jedoch nicht als Unterdrücker. In dem deutschen Gebiet, das von Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtsätze und Einrichtungen die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben. Den deutschen Militarismus, der so oft den Frieden der Welt gestört hat, werden wir endgültig beseitigen. Führer der Wehrmacht und der NSDAP, Mitglieder der Geheimen Staats-Polizei und andere Personen, die verdächtig sind, Verbrechen und Grausamkeiten begangen zu haben, werden gerichtlich angeklagt und, falls für schuldig befunden, ihrer gerechten Bestrafung zugeführt.

II.
Die höchste gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Machtbefugnis und Gewalt in dem besetzten Gebiet ist in meiner Person als Oberster Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte und als Militär-Gouverneur vereinigt. Die Militärregierung ist eingesetzt, um diese Gewalten unter meinem Befehl auszuüben. Alle Personen in dem besetzten Gebiet haben unverzüglich und widerspruchslos alle Befehle und Veröffentlichungen der Militärregierung zu befolgen. Gerichte der Militärregierung werden eingesetzt, um Rechtsbrecher zu verurteilen. Widerstand gegen die Alliierten Streitkräfte wird unnachsichtlich gebrochen. Andere schwere strafbare Handlungen werden schärfstens geahndet.

III.
Alle deutschen Gerichte, Unterrichts- und Erziehungsanstalten innerhalb des besetzten Gebietes werden bis auf Weiteres geschlossen. Dem Volksgerichtshof, den Sondergerichten, den SS-Polizei-Gerichten und anderen außerordentlichen Gerichten wird überall im besetzten Gebiet die Gerichtsbarkeit entzogen. Die Wiederaufnahme der Tätigkeit der Straf- und Zivilgerichte und die Wiedereröffnung der Unterrichts und Erziehungsanstalten wird genehmigt, sobald die Zustände es zulassen. [Seite-65]

IV.
Alle Beamte sind verpflichtet, bis auf Weiteres auf ihren Posten zu bleiben und alle Befehle und Anordnungen der Militärregierung oder der Alliierten, die an die deutsche Regierung oder das deutsche Volk gerichtet sind, zu befolgen und auszuführen. Dies gilt auch für die Beamten, Arbeiter und Angestellten sämtlicher öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Betriebe, sowie für sonstige Personen, die notwendige Tätigkeiten verrichten.

Dwight D. Eisenhower
General
Oberster Befehlshaber
Alliierte Streitkräfte

Überall in der Stadt wurde die Proklamation Nr. 1 verlesen und an verschiedenen Häusern angeschlagen. Leider hat sich in Alsfeld kein Exemplar erhalten.

Du, Bürgermeister!

Etwa eine halbe Stunde nach dem Absetzen der letzten deutschen Kampftruppe am Marktplatz erschienen dort zwei amerikanische Offiziere, die den Bürgermeister suchten. Da sich dieser auf dem Hellhof befand, Stadtinspektor Weber sich aber als Verbindungsmann zum Kampfkommandanten im Rathaus, Weinhaus und zuletzt im Haus Lipphardt aufhielt, wollte dieser sehen, was nun getan werden musste und begab sich auf den Marktplatz. Auf die Frage „Wer bist du?“ hieß es gleich „Du kommen mit“. Man wollte in das Rathaus gehen, doch ließ sich die Türe wegen der Beschädigung nicht öffnen. So begab man sich in das Wehrmeldeamt in das Weinhaus. Weber, der 30 Jahre im Dienst der Stadtverwaltung war, musste seine Papiere vorweisen. In wenigen Minuten hat sich hier mit den beiden Amerikanern und einem Dolmetscher etwas abgewickelt, was so leicht nicht begreiflich zu sein scheint. Bürgermeister Dr. Völsing, der seit 1909 Oberhaupt der Stadt war, wurde für abgesetzt erklärt und zu Weber wurde gesagt: „Du jetzt Bürgermeister“. Weber sträubte sich dagegen und ließ durch Rufen aus dem Fenster den 1. Beigeordneten Willi Müller holen, der ja in dieser Eigenschaft der offizielle Vertreter des Bürgermeisters war. Müller wurde auch geholt. Der Offizier scheint schließlich die Aufgaben geteilt zu haben, „Du – Bürgermeister, Du – Assistent!“

Von 12 bis 12.30 Uhr wurden Weber die Bedingungen der Amerikaner diktiert, die er selbst auf zwei Seiten mit der Schreibmaschine geschrieben hat. Denn schon bis 14 Uhr sollten die Deutschen alle Waffen abliefern. Auf Webers Einwand, dass die Frist zu kurz sei, erhielt er zur Antwort: „Das ist für Sie eine Kleinigkeit, Ihr Deutschen versteht doch sonst alles gut zu organisieren“. Weitere Thesen betrafen Ausgangssperre, Verdunklungspflicht, Verhalten sowie alle Verbrechen, die mit dem Tode bestraft würden. Als die Bevölkerung im Weinhaus die Waffen ablieferte, waren keine Soldaten zum Empfang oder zum Quittieren bei der Abgabe anwesend. Polen und Amerikaner holten und nahmen sich Waffen, die ihnen gefielen, darunter auch Antiquitäten. Ähnlich ging es mit Fotoapparaten und Ferngläsern, die ebenfalls abgegeben werden mussten. Sie wurden von Befreiern und Befreiten schon auf dem Wege zum Weinhaus abgenommen.

Überhaupt war die Klauerei und Plünderei gang und gäbe. Schon beim Durchsuchen der Häuser gingen zahlreiche Wertgegenstände mit, wie Fotos, Radios, Schmuck, Uhren, Briefmarkensammlungen, Geld usw. Schlechteres wurde häufig zurückgelassen [Seite-66] Eingravierungen und Namenseintragungen zeigten den seitherigen Weg an. Auf Beschwerden reagierten die Offiziere mit der Bemerkung, dass die deutschen Soldaten das in Frankreich und anderen Ländern genauso gemacht hätten. Die Stadtkasse der Alsfelder war gleichfalls geplündert worden, als die Amerikaner das Weinhaus durchsuchten. In ihrer Begleitung waren auch bereits etliche „Fräuleins“ dabei, die sich aus den schon besetzten Gebieten angeschlossen hatten.

Willi Müller musste an dem Holzverschlag des Hauses Ramspeck am Marktplatz ein großes Plakat anschlagen, wonach das Plündern verboten wurde. Stadtinspektor Weber erhielt für seine Funktion eine Armbinde, damit er sich zu jeder Zeit auf der Straße bewegen konnte. Die Bevölkerung durfte dagegen nur am Vormittag von 8 bis 10 Uhr und am Nachmittag von 16 bis 18 Uhr ihre Häuser verlassen, um die notwendigen Einkäufe zu tätigen.

An den Panzergruppenkommandeur hat Müller keine guten Erinnerungen. Er kam ihm wie ein dicker Boß aus Chicagos Unterwelt vor. Als dieser bei der Rathausbesichtigung das kunstvolle Schloß der Türe zum Standesamtszimmer, das ein Meisterstück Alsfelder Kunsthandwerks von dem Schlosser Curt Obermann aus dem Jahre 1604 ist, mit seiner Pistole zerschießen wollte, scheute sich Müller nicht, ihn daran zu hindern. Die Kampftruppen waren bereits auf dem Wege nach Hersfeld. Die erste Etappe lagerte in der Nacht im Kasino.

Am nächsten Tag, es war Ostersamstag, der 31. März, an dem schönes Wetter herrschte, wurde die Post geräumt. Etwa 12 Bürger mussten sie säubern. Für des Generals Bett hatte Müller Leinen zu beschaffen, das in der Villa Bücking requiriert wurde. Vielleicht war es der Kommandeur der 6. US-Panzerdivision des XX. US-Corps der 3. US-Armee, die auf dem Vormarsch durch Alsfeld gekommen war, aber keinen Anteil an der eigentlichen Besetzung der Stadt genommen hatte. Der Kommandeur war Generalmajor Robert W. Grow.

Das Kasino, in dem die Organisation Todt lag, musste in 10 Minuten geräumt werden, ebenso mussten die Häuser von der Lutherstraße bis zur Obergasse, vom Schnepfenhain bis zum Bahnwärterhäuschen von den Bewohnern verlassen werden.

Als Bürgermeister Dr. Völsing am 31. März auf dem Marktplatz erschien, wurde er verhaftet. Er stand von einem Posten bewacht vier Stunden vor dem „Schwanen“ am Marktplatz, wurde dann freigelassen, aber mit Stubenarrest bestraft. Dem Stadtinspektor Weber wurde trotz Ausweis und Armbinde von dem Posten verwehrt, mit dem Bürgermeister zu sprechen.

Beim wiederholten Wechsel der militärischen Einheiten wurde Müller für 2 oder 3 Tage Bürgermeister. Er wurde von drei Amerikanern auf dem Jeep geholt, als ihm das verkündigt wurde. Jeden Morgen sollte er Rapport machen. Sein Haus musste immer offen sein, falls man ihn brauchte. Im Jeep fuhren ihn die Amerikaner durch die Stadt.

Er musste die getöteten Pferde begraben lassen, was an Ort und Stelle geschah. Die gefallenen Soldaten, etwa 10 bis 12, wurden gesucht und in der Leichenhalle aufbewahrt, wo unmittelbar nach Ostern noch 10 bis 15 offene Särge mit meist jungen Soldaten in feldgrauer Uniform ohne Erkennungsmarke zu sehen waren. Müller berichtet, dass er sich nur in Begleitung bewaffneter MP zu den Polen wagte, wenn er diesen Lebensmittel bringen musste. Weber erinnert sich mit Grauen an den schrecklichen Zustand in den beiden Lazaretten in Alsfeld, als er Stroh hinbringen musste. Die Verwundeten lagen auf den Fluren, es gab in der überfüllten Stadtschule viele Tote. Als Müller wegen der Erschießung des abgestürzten und [Seite-67] gefangenen amerikanischen Fliegers die Beteiligten verraten, ja sogar 10 bis 12 Geiseln stellen sollte, wenn nicht herauskäme, wer das getan hätte, ließ er sich vom Dienst beurlauben.

Wohl haben die einzelnen, am Anfang häufig wechselnden örtlichen Befehlshaber und Stadtkommandanten nach Gutdünken und entsprechenden Einredungen gehandelt und bald den einen, bald den anderen abgesetzt, weil bekannt wurde, dass der Betreffende ein „Nazi“ war – und alle Nazis waren ja für sie die schlimmsten Verbrecher. Die Verfolgten verfolgten nunmehr ihre Verfolger. „Glücksritter“ und „Spekulanten“ suchten ihre Chancen zu nutzen. Die „Radfahrer“ und „Schmierer“ boten sich an. Wer nur irgendwie unter dem Dritten Reich gelitten hatte, sei es aus welchem Grund auch immer, schwamm oben. Die anderen praktizierten das Überleben, verbrannten eiligst Hitler-Bilder, NS-Fahnen, NS-Uniformen und NS-Bilder.

Am 3. April wurde durch Captain der Infanterie JM. D. Burks bekanntgegeben, dass Karl Kneisel Landrat und Heinrich Weber Bürgermeister sind. „Die Achtung und die Zusammenarbeit, welche ihre Ämter erfordern, ist ihnen zu erweisen“. Das ist das erste Dokument des Stadtarchives für die neue Ära. Captain Burks, der im Sitzungssaal des Amtsgerichtes residierte, wird von Müller als ein feiner Mann bezeichnet; er war Farmer aus dem US-Staat Kentucky.

Off limits

Große Aufregung herrschte in der Stadt, als ganze Straßenzüge geräumt werden mussten, die Ausländer in der Stadt tobten, Häuser und Läden plünderten und Menschen überfielen. Die Polen taten Gutes dort, wo sie gut behandelt worden waren, aber sie rächten sich auch an Leuten, die sie schlecht behandelt hatten.

Auf Befehl der Militärregierung wurden Altenburger Straße, Schillerstraße, obere Grünberger Straße, Alicestraße, Schwabenröder Straße und Junkergarten geräumt. Die Häuser mussten in aller Hast verlassen werden, nur das Nötigste konnten die Bewohner mitnehmen. Es war schwierig, andere Unterbringungsmöglichkeiten für die Betroffenen zu schaffen, zumal die Stadt mit Bombengeschädigten, Evakuierten und Flüchtlingen überbelegt war. Familien wohnten mit vier und mehr Personen oft nur in einem einzigen Raum. Bei anderen Hausbesitzern und Wohnungsinhabern, vor allem bei den bekannten Parteimitgliedern und entsprechend Eingerichteten, wurden Möbel und allerlei Gebrauchsgegenstände, manchmal ohne Quittung, beschlagnahmt.

Polen, Russen, Italiener lagerten in der Oberrealschule und in der Turnhalle, in denen alle Einrichtungen zerstört wurden. In das Arbeitsdienstlager in der Jahnstraße brachten sie Fleisch von in der Umgebung Alsfelds geraubten Vieh und brannten Schnaps. Sie plünderten das Schuhgeschäft Lipphardt am Marktplatz, bis die von der Verwaltung herbeigerufene MP mit Knüppel und Waffe einschritt und die Menge vertrieb. In der Nacht überfielen sie das Uhrengeschäft Heymann in der Mainzer Gasse. Die Bürger lebten in großer Angst. Die von der Militärregierung eingesetzten Bürgermeister Müller und Weber bemühten sich daher intensiv um den Abtransport der Ausländer, was auch bald geschah.

Zur Sicherheit wurde an den öffentlichen Gebäuden das bekannte Schild angebracht: Off limits. Überall war zu lesen, was nicht erlaubt war. Und vieles war nur mit besonderer Erlaubnis möglich. Damit begann auch der Papierkrieg der Verwaltung wieder. Seit dem 4. April werden Eingänge registriert, Aktenvorgänge angelegt und verwaltet, auf Befehl der Militärregierung.

Zwar war die staatliche Ordnung, wenn man sie in den letzten Tagen noch so [Seite-68] bezeichnen darf, aufgelöst, doch die Verwaltung lief irgendwie weiter. Jeder musste ja auf seinem Platz bleiben, bis die Militärregierung anders entschied. In einer Anweisung vom 4. April hieß es: „Sobald der Offizier der Militärregierung in Ihrem Bezirk eintrifft, setzen Sie ihre Arbeit als Bürgermeister fort und sind verantwortlich dafür, dass die Veröffentlichungen, Befehle, Gesetze, Merkblätter und folgende Beschränkungen beachtet werden“: Zivilpersonen durften z.B. die Gemeindegrenzen nicht verlassen. Weiter als 6 km durften nur Spezialarbeiter, Ärzte, Nahrungsmittelverteiler usw., die im Besitz eines Passes waren, der vom Militärregierungs-Offizier ausgestellt war. Der Bürgermeister musste eine Liste solcher Personen aufstellen. Die Verdunklungspflicht bestand weiterhin, von einer halben Stunde vor Sonnenuntergang bis eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang. Umquartierte Personen mussten vorläufig am jetzigen Wohnort bleiben, bis sie umquartiert wurden. Die deutschen Behörden waren für gute Behandlung, Verpflegung und Unterbringung verantwortlich. Der Bürgermeister musste eine Liste mit Namen, Nationalität, Geschlecht und Anschrift anfertigen. Diejenigen, die arbeiteten, sollten den höchsten deutschen Lohn erhalten. Telefon, Telegraf, Bildfunk, Radio und Post durften nicht benutzt werden. Feuerwaffen Gewehre, Munition, Sprengstoffe, Sendegeräte, Fotoapparate und Ferngläser mussten eingesammelt, bescheinigt, versiegelt und in Verwahr des Bürgermeisters oder der deutschen Polizei gehalten werden. Eine Liste der Brieftaubenbesitzer mit Stückzahl war dem Militäroffizier vorzulegen (eine solche Liste vom 7. April liegt bei den Akten). Verborgene deutsche Soldaten mussten gemeldet werden; sollten diese versuchen, in Zivilkleidung zu entkommen, würden sie als Spione erschossen. Wer sich ergeben wollte, sollte das beim nächsten amerikanischen Offizier ohne Koppel und Helm tun.

Der Verkehr zwischen Stadt und Land lag völlig lahm. Kein Zug fuhr. Keine Post kam. Keine Zeitung berichtete das Neueste vom Tage. Es fehlten Strom und manchmal Wasser. Die Lebensmittelversorgung war recht schwierig. Weiterhin gab es Lebensmittelkarten. Nach 8 Tagen konnte die Molkerei im Einzugsbereich wieder mit Milch beliefert werden.

Hart lasteten die Bedingungen der Militärregierung auf den Deutschen. Mittellungen, Veröffentlichungen, Briefverkehr, Plakatanschlag und Zeitungen waren verboten. Ausgangszeit wurde auf 7 bis 19 Uhr festgesetzt. Während der Sperrzeit hatten sich die Zivilpersonen in ihren Wohnungen aufzuhalten, andernfalls wurden sie festgenommen. Man durfte ohne Erlaubnis der Militärregierung keine Fahrräder, Autos. Motorräder und andere Verkehrsmittel benutzen. Niemand durfte seinen Wohnsitz wechseln. Schulen blieben geschlossen. Zivilpersonen war es verboten, amerikanische oder deutsche militärische Ausrüstungsgegenstände oder Bekleidungsstücke zu tragen. Es war verboten, amerikanische Waren zu kaufen, ja sich mit amerikanischen Militärpersonen einzulassen. Selbst die Ansammlung von mehr als fünf Personen wurde außer für den festgesetzten Gottesdienst nicht erlaubt.

Eine turbulente Zeit begann, in der die Gesinnung der Deutschen untersucht, Demokratie von unten nach oben versucht und ein neues Leben begonnen wurde, doch mag dieser Abschnitt der Geschichte Alsfelds einem anderen Kapitel vorbehalten bleiben.

Anmerkungen:

[01] Dieser Beitrag wurde bereits 1970 verfasst und durch weitere Untersuchungsergebnisse erweitert und verbessert.

[02] Der Verfasser gibt diesen Beitrag nur ungern zur Veröffentlichung frei, sieht aber keinen anderen Weg, als gerade auf diese Art und Weise Klarheit zu gewinnen und Berichtigungen zu erhalten. So ergeht an alle Mitbürger, die Zeugen jener Ereignisse waren, die herzliche Bitte, beim Zusammenstellen des Tatsachenmaterials zu helfen, damit ein objektives und. richtiges Bild der Geschichte unserer Stadt in der Zeit von März bis April 1945 entstehen kann.

[03] Im wesentlichen nach:
K. D. Erdmann: Die Zeit der Weltkriege, in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band 4, 1959,
K. D. Bracher: Zusammenbruch des Versailler Systems und Zweiter Weltkrieg, in: Propyläen Weltgeschichte, 9. Band, 1960,
E. Kuby: Das Ende des Schreckens, Dokumente des Untergangs, Jan. bis Mai 1945, 1955, Geschichte in Quellen, Band V. Weltkriege und Revolutionen, 1914-1945, 1961,
K. v. Tippelskirch: Die Geschichte des zweiten Weltkrieges, 1954, United States Army in world war II, Chronology 1941-1945, 1960, Order of battle of the United States Army world war II, European theater of operations, o. D., 6 th Armored Division,
H. Huber / A. Müller: Das dritte Reich, München 1964,
H.-A. Jacobsen( H. Dollinger: Der zweite Weltkrieg, München 1963,
H. Dollinger: Die letzten 100 Tage, München 1965.

[04] United States Army in World War II, Chronology 1941-1945, Washington 1960, S. 461 ff.

[05] ebd. S. 463

[06] ebd.

[07] ebd. S. 465

Erstveröffentlichung:

Dr. Herbert Jäkel, Als die Amerikaner kamen. Das Ende des Krieges und die Besetzung Alsfelds am 30. März 1945, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 12. Reihe, Nr. 4/5, 1974, S. 49-68.

Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde von ihm bzw. seinen Rechtsnachfolgern genehmigt.

[Stand: 19.02.2024]