Alsfelds letzte Tage im 2. Weltkrieg und der Neubeginn

Von Julius Waldeck, Alsfeld (1945/1946)

Am 17.03.1945 um 13 Uhr warf ein feindliches Flugzeug fünf Brandbomben und fünf Sprengbomben auf das Brauereigebäude. Die Mälzerei erhielt zwei Volltreffer. Die obersten Stockwerke wurden weggerissen, im übrigen hielt der Unterbau stand. Das Stallgebäude wurde völlig zerstört und zwei Pferde vom Reichsarbeitsdienst verreckten und mit ihnen ein Arbeitsmann, der die Tiere betreute. Ein weiteres Pferd, der Brauerei gehörig, wurde getötet, ebenfalls eine Kuh. Eine gegenüber stehende Baracke des RAD ging in Trümmer. Bombentrichter von 12 Metern Durchmesser ließen die Schwere des Angriffs erkennen. Als Angriffsziel dürfte die angrenzende Eisenbahnbrücke und die Gleisanlagen der Bahn ausersehen gewesen sein.

Am Sonntag, dem 25.03.1945, morgens gegen 5 Uhr, ertönte Feueralarm. Die hintere Werkstätte des Schmiedes Chr. Karpf am Altenburger Weg wurde ein Raub der Flammen, die vorderen Werkräume erlitten Zerstörungen. Entstehungsursache unbekannt. Das Anwesen war bereits beim Bombenangriff am 22.02.1945 in Mitleidenschaft gezogen worden.

Am 26.03.1945 wurde der im 55. Lebensjahre stehende Postbetriebsassistent Georg Scharmann aus Alsfeld, eine wegen seines köstlichen Humors allseits beliebte Persönlichkeit, in Ausübung des Dienstes im Bahnpostwagen auf der Strecke Alsfeld-Hersfeld, auf der Rückführt nach Alsfeld, zwischen 14 und 15 Uhr von Tieffliegern in den Rücken geschossen und getötet. Außerdem erlitten vier Soldaten Verletzungen.

In der Nacht von 27.03.1945 auf den 28.03.1945 herrschte im Städtchen große Aufregung, die über die nächsten Tage andauerte. Die Ursache waren Nachrichten vom Näherkommen des Feindes vom Westen her, denn schon in Frankfurt/Main waren Straßenkämpfe im Gange und die Panzerspitzen bis in den Raum von Gießen vorgedrungen.

Unaufhörlich rollten deutsche Personen- und Lastwagen durch die Stadt und auf der Reichsautobahn mit Kurs nach Hersfeld und Kassel. In zum Teil völlig abgerissenen Uniformen, auf Stöcken gestützt, wanderten todmüde, fußkrank gewordene Soldaten gen Osten zu, einzeln und in kleinen Trupps, nachdem sie in Alsfeld kurze Rast gehalten hatten. Die Nacht verlief ziemlich ruhig, vom Feind war nichts zu sehen. Die Bewohner […?] bereiteten sich auf das Herannahmen der amerikanischen Truppen vor, eine Anzahl Einwohner suchten Schutz in den benachbarten Dörfern. Die hiesige Bevölkerung geriet in Erregung als bekannt wurde, dass hier stationierte Offiziere einer Nachrichtenabteilung und Landrat Legau beabsichtigten, die Stadt gegen den Willen des Bürgermeisters zu verteidigen. Kleine Trupps rückten gegen den Romröder Wald vor. Wie einfältig und falsch diese Maßnahme seitens des kommandierenden Offiziers war, zeigte sich in der Folge der Ereignisse.

Am […?] Karfreitag, dem 30.03.1945, gegen ½9 Uhr, erschienen die ersten amerikanischen Panzerautos vor der Stadt, die aus verschieden Richtungen herannahten. Es entwickelten sich mit der nachstoßenden amerikanischen Infanterie schwere Straßenkämpfe. Panzerwagen fuhren auf die wachenden […?] deutschen Soldaten, denen es gelang, einige Panzer mit der Panzerfaust zur Strecke zu bringen. In diesen Kämpfen wurden Häuser in der oberen Mainzer Gasse stark beschädigt, der verlassene Schuladen von Robert Müller wurde ausgeplündert. Der Marktplatz erlitt bedeutende Schäden. 12 Erkerscheiben der Firma Martin Kimm wurden total zertrümmert, sämtliche Fenster des Hochzeitshauses, in dem das Museum des Geschichts- und Altertumsvereins untergebracht war, zerschossen.

Das gleiche Schicksal hatten einige andere Häuser des Marktplatzes. Das Rathaus blieb unversehrt bis auf eine starke […?] Steinbüste im Erdgeschoss, die beschädigt wurde. In der Hauptstraße […?] erfolgten die Zerstörungen durch unsere Panzerfaust, die sich den Amerikanern noch immer entgegenstellte. Im oberen Umgang des Turmes der Walpurgiskirche riss Geschützfeuer Teile des Mauerwerks ab. Am Rossmarkt entstanden geringe Schäden an verschiedenen Häusern, vor dem Mainzer Tor beim „Letzten Heller“, waren die Wände des Gundrum‘schen Hauses stark beschossen worden. Unaufhörlich hallten die Schüsse durch die Gassen, ihr nervtötendes Geknatter wollte kein Ende nehmen. Mit aller Vorsicht, Deckung suchend, hatten die Amerikaner von Straßenecke zu Straßenecke sich herangepirscht. Im Keller harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Sieben Stunden waren wir von amerikanischen Soldaten scharf bewacht, die in die einzelnen Stockwerke eindrangen, die Zimmer absuchten nach deutschen Soldaten und auch hie und da die Schubladen und Schränke aufbrachen. Zu ihrer Ehre sei gesagt, dass sie nichts gestohlen hatten, aber anderwärts war das Gegenteil der Fall.

Unsere Soldaten hatten sich inzwischen in Richtung Eudorf abgesetzt, wo durch Panzerfaust […?] Anwesen dieses Dorfes vernichtet wurden.

Das bereits am 22.02.1945 schwer durch Bombenangriff beschädigte Grünewald‘sche Anwesen am Schützenrain wurde neuerdings durch Geschützfeuer, samt der Weberei, völlig in Trümmer gelegt. Die Raab’sche Scheune im Altenburger Weg brannte nieder. Das einzig Befreiende war das nun aufhörende der Bombenangriffe, durch die die Bewohner stündlich in größter Gefahr geschwebt hatten. Streifen amerikanischer Soldaten und das ständige Rollen ihrer Panzer und sonstigen Fahrzeuge durch die Straßen wollte kein Ende nehmen.

Am 31.03.1945 wurde Bürgermeister Dr. Völsing, der inzwischen als abgesetzt erklärt worden war, vier Stunden lang in Haft genommen. Später hatte er Stubenarrest in seiner Wohnung. Bürgermeister Willi Müller wurde mit der Leitung der Stadtverwaltung beauftragt, jedoch nach einigen Tagen durch Stadtinspektor Weber ersetzt, der zum Bürgermeister vorläufig bestimmt wurde. Aus verschiedenen Häusern am Marktplatz prangten Plakate des Generals Eisenhower über die zu befolgenden Maßnahmen für die Zeit der Besatzung. Zwischen 8 und 10 Uhr und 16-18 Uhr konnte die Bevölkerung ihr Einkäufe tätigen, außerhalb dieser Zeiten durften die Häuser nicht verlassen werden. Die Verdunkelung musste weiterhin durchgeführt werden.

In den Ausgezeiten traten allmählich Milderungen ein. Bis zu sechs Kilometer darf die Stadt verlassen werden, weitere Entfernungen bedürfen der Ausstellung eines Passierscheins der Militärkommandantur. Am 28.04.1945 mussten sämtliche männliche Einwohner vom 16. bis zum 60. Lebensjahre auf Befehl der Besatzungsbehörde am Postgebäude sich melden.

Gegen Mitte Juni 1945 wurde die Erlaubnis erteilt, auch ohne Passierschein der Militärregierung die ganze Provinz Oberhessen mit Ausnahme des Stadtkreises Bad Vilbel bereisen zu können.

An Stelle des inzwischen verhafteten Herrn Weber erfolgte die Besetzung des Bürgermeisterpostens durch Herrn August Rosenkranz, der schon früher in Altenkirchen (Westerwald) als Bürgermeister gewirkt hatte. Auch sein Sachkenntnis und sein freundliches Entgegenkommen erwarb sich Herr Rosenkranz bald des Vertrauen der Bürgerschaft, und sein Rücktritt von der Leitung der städtischen Angelegenheiten wurde allgemein bedauert. Mit Wirkung vom 16.05.1945 fand die Beförderung des Herrn Rosenkranz zum Landrat des Landkreises Alsfeld statt. Zum Bürgermeister wurde Herr Oskar Staab, der früher als Inspektor im Kreisamt Alsfeld tätig gewesen war, seitens der Militärregierung ernannt.

Der erste Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Alsfeld, Herr Karl Bernbeck, der bisher als Major d.R. beim Heer seine militärische Dienstpflicht erfüllt hatte, kehrte Mitte Juni 1945 in seine Gemeinde zurück, um sein geistliches Amt wieder zu übernehmen.

Ein besonders Kapitel bildet die Heimkehr der z. Zt. evakuierten Familien aus dem Westen des Reichs. Tag für Tag ist die Reichsautobahn befahren mit allerlei meist selbst gezimmerten Handwagen aller Größen und bisweilen drolligen Konstruktionen, mit den geringen Habseligkeiten der schwer betroffenem Familien, oft hoch beladen. Männer und Frauen wechseln mit den größeren Kindern die Führung der Deichsel, die Säuglinge und kleinen Geschöpfe hocken in den Bettkissen, während die alte Großmutter in sich gesunken, mit verhärmten Zügen, still und mit herabhängendem Kinn im Hinterteil des Fahrzeuges notdürftig ihr Plätzchen inne hat. Starr hat sie den Blick, in die Ferne gerichtet. Was mögen ihre Gedanken erheischen? Die glücklicheren unter den Evakuierten, die ja fast alle zu ihren ehemaligen Wohnstätten nach dem Rheinland und […?] gelangen wollen, hatten Gelegenheit einen größeren Wagen mit einem Pferde oder Maulesel bespannt, zu erwerben und gelangen früher und unbeschwerter an ihr Ziel, wo sie doch nur zerstörte Wohnungen vorfinden werden und Nahrungsmittelmangel usw. wartet. Vielleicht werden auch die Landstraßen benutzt, besonders von Einzelgängern, die unterwegs nahe einer Bahnstation halt machen, und die Möglichkeit der Fortsetzung der Reise mit der Eisenbahn zu prüfen. Deutsche Personen und […?] zeigen sich oft bereit, die armen Rückwanderer ein Stück weit mitzunehmen. Der größte Teil der Flüchtlinge, denen die ausgestandenen Entbehrungen auf den Gesichtern gezeichnet sind, kommen aus Thüringen, dem Harz, Sachsen und von Schlesien und waren seit Wochen unterwegs. Gar oft werden die Durchreisenden von Alsfelder Familien vorübergehend freundlich aufgenommen und verpflegt. Es sind ergreifende Bilder des Jammers, die ein besiegtes Volk zu schauen genötigt ist. Diese Elendsszenen wiederholen sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend.

Diese Vorgänge erinnern den Schreiber deshalb lebhaft an die Rückzüge der geflüchteten Ostpreußen im ersten Weltkriege 1915, die aber alle auf langen Wagen, mit ausgehungerten Russenpferden bespannt, […?] vor den Russen geflohen […?]. Ihnen stehen die grausigen Bilder noch immer vor Augen.

Nachdem vorübergehend die Ausgehzeit bis 23 Uhr verlängert worden war, trat eine Änderung im Juli ein. Sie wurde festgelegt von 5 Uhr fünf bis 21.30 Uhr abends. Im gleichen Monat erging seitens des Stadtkommandanten eine Aufforderung an die Bevölkerung, die noch vorhanden Waffen bis zum 15.07.1945 abzuliefern. In diesem Falle werde Straffreiheit zugesichert. Am Samstag den 21.07.1945, schon nach Mitternacht beginnend, fand eine große Razzia statt, nachdem die Straßen und  Ortsausgänge durch starke Posten gesichert waren. Die Durchsuchung der Häuser und Wohnungen wurde peinlichst durchgeführt, einige Verhaftungen vorgenommen. Erst um die Mittagszeit durften die Einwohner die Häuser wieder betreten.

Ab 24.07.1945 wurde die Ausgezeit bis 22.30 Uhr verlängert, also um eine Stunde, eine Maßnahme, die freudig begrüßt wurde. Das Teil-Lazarett im Hotel „Deutsches Haus“ ist aufgelöst worden, dasjenige in der Stadtschule bleibt noch weiterhin bestehen. Die im „Deutschen Haus“ freigewordenen Räume benutzen die Amerikaner als Vergnügungsstätte (Kasino). Einrichtungsgegenstände wie Polstersessel, Teppiche, Stehlampen, Radios, Rauchtischchen wurden ans guten Bürgerhäusern requiriert. Das „Amerikanische Soldatenheim“ schenkt seinen Besuchern vorzugsweise echten Bohnenkaffee nebst Butterbrezeln, Begriffe, mit denen wir Deutsche vorläufig nichts anzufangen wissen.

Das Postgebäude wurde Ende Juli 1945 von den Besatzungstruppen geräumt, der Postverkehr in beschränktem Umfang wieder aufgenommen. Postkarten, mit amerikanischen Briefmarken beklebt, durften ins Kriegsgebiet versandt werden, und ab 06.08.1945 auch in die gesamte amerikanische Besatzungszone zur Auslieferung gelangen.

Erfreulicherweise ist das Bahnhofsgebäude ebenfalls von Truppen frei geworden, so dass der Bahnverkehr wieder in geordneter Weise verläuft und dem Publikum alle Räume zugängig sind. Von einem geregelten planmäßigen Zugverkehr kann noch nicht gesprochen werden. Durch […?] wartende Anschlüsse weisen die Züge zeitweise erhebliche Verspätungen auf. Ein Fortschritt bedeutet die Einlegung eines gemischten Zuges von Alsfeld über Mücke, Laubach, Hungen nach Nidda. Reisende nach Gießen müssen in Burg- und Niedergemünden umsteigen. Die Züge nach Fulda verkehren nur bis Bad Salzschlirf, diejenigen nach Hersfeld lediglich bis Breitenbach/Herzberg.

Der zweite Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Alsfeld, Herr Dreißigacker, ist gegen Mitte Juli 1945 vom Heeresdienst entlassen und seiner Gemeinde wieder zurückgegeben worden. Die sonntäglichen Gottesdienste werden eifrig besucht, die Jugend stellt sich wieder ein. Neuerdings wurde das früher übliche Morgen- und Abendleuten (die Glocke in automatischer Verbindung mit einer bestimmten Uhrzeit) zur Freunde der Bewohner wieder eingeführt.

Zum Kreisbauernführer des Landkreises Alsfeld wurde der Gutspächter Mohr in Rülfenrod ernannt. Ortsbauernführer bestehen nicht mehr, sind aber später wieder ernannt worden. Seit dem 04.10.1945 bringt die Buchdruckerei F. Ehrenklau ein „Amtsblatt für den Kreis Alsfeld“ heraus, das alle Bekanntmachungen der Behörden, insonderheit der Deutschen Regierung des Landes Hessen, enthält und nach Bedarf erscheint. Private Anzeigen nimmt des Blatt nicht auf. Unterm 09.08.1945 wird die Wiederöffnung des Amtsgerichts Alsfeld und des Zweiggerichts Homberg an der Ohm bekannt gegeben.

Zum Vorsitzenden des Gerichts wurde der Landgerichtsrat Pfannstiel, geboren in Elpenrod, Kreis Alsfeld, ernannt. Die Dampfsägewerke Sondermann & Bücking und Hans Wilhelmi (vormals Gebrüder Wallach) wurden verpflichtet, Gruben- und Jungholz lediglich für Zwecke der Klienten zu beschaffen, nur das über 48 Stunden Arbeitszeit in der Woche hinaus anfallende Nutzholz darf für den deutschen Bedarf Verwendung finden.

Der 13.09.1945 brachte abends 8 Uhr auf dem Marktplatz eine Kundgebung, die von der sozialdemokratischen Partei einberufen worden war. Der Sprecher, Landrat Rosenkranz, ließ nach einer Schilderung der politischen Verhältnisse nach 1918 die Entstehung, Entwicklung und das unheilvolle Wirken der nationalsozialistischen Bewegung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens Revue passieren, kritisierte die nun folgenden Kriegsereignisse, die sich überstürzten, für die er Adolf Hitler und seinen ganzen Stab verantwortlich machte. Zum Schlusse forderte er die Anwesenden auf, sich künftig angestrengtester Arbeit zu befleißigen und zu dem Ziel zum Wiederaufbau des Vaterlandes nach Kräften beizutragen, damit Deutschland aus dem Chaos herauskommen und nun seinen informellen Platz im Rate der Völkerfamilie wieder einnehmen und der notwendige Austausch der Warengüter wieder in Fluss komme. Insbesondere wandte der Redner sich an die deutsche Jugend, das Vergangene zu vergessen, dem nationalsozialistischen Geist abzuschwören und mit den Alten gemeinsam eine Stätte wacher Demokratie und Freiheit in Deutschland aufzurichten. Die Anstrahlung des Rathauses, des Turms der Walpurgiskirche und einiger schöner Fachwerkhäuser des Marktplatzes mittels elektrischer Beleuchtung gestaltete sich äußerst wirkungsvoll.

Mitternacht, vom 15.09.1945 auf den 16.09.1945, wurden die Uhren um eine Stunde zurückgestellt und damit die normale mitteleuropäische Zeit wieder eingeführt. Bürgermeister Staab, der am 15.06.1945 sein Amt angetreten hatte, schied am 31.03.1946 aus seiner Stellung.

Es wären noch einige Worte über die sittlichen Zustände in der Gemeinde zu sagen. Mit Bedauern musste man feststellen, dass in der Vorkriegszeit die Jugend beiderlei Geschlechts in einem Maße durch die vorausgegangene nationalsozialistische Erziehungsmethode beeinflusst worden war, die an Überhebung der eigenen Person keine Grenzen mehr kannte. Sie, die Jugend, wurde dadurch den Elternhäusern völlig entfremdet, erkannte die Autorität der eigentlichen Erzieher, mit geringen Ausnahmen, nicht mehr an, sie benahmen sich älteren Personen gegenüber respektlos, besuchte keine Gottesdienste und kannte nur Dienst im nationalsozialistischen Fahrwasser. Der Religionsunterricht in den Schulen war aufgehoben, die älteren, ihrer Tradition treu gebliebenen. Lehrer waren all dem gegenüber machtlos, zumal das Züchtigungsrecht stark eingeschränkt wurde. Jugend sollte Jugend erziehen, so lautete die Parole, die sich bitter rächen musste.

Kein Wunder, dass die unwillige Jugend unter diesen Umständen in schamloser Weise die Selbstachtung verlor, sich sonderbar […?] benahm, was sich im Verkehr mit der […?] Besatzung besonders abstoßend wirkte und die Missbilligung der Bevölkerung hervorrief. Die Folgen dieses […?] blieben nicht nur, so dass viele Eltern in namenloses Leid versetzt worden sind.

Durch den neuen Gemeinderat wurde auf behördliche Anordnung ein neuer Bürgermeister für die Dauer von zwei Jahren gewählt in der Person des Herrn Falkenhainer, eines Rheinländers, der sich der Besetzung des Landes durch die feindlichen Truppen als Bürgermeister der Villenkolonie Buchschlag bei Frankfurt am Main tätig war. Herr Falkenhainer, zu Beruf Ingenieur, bringt durch seine Berufskenntnisse alle Eigenschaften mit, die ihn befähigen, den Ausbau und der Verschönerung des Städtchens seine Kräfte zu widmen. Er steht im 46. Lebensjahre und übernahm des Amt am 01.04.1946.

Möge es ihm mit Unterstützung eines objektiv eingestellten Gemeinderats gelingen, die Geschicke unserer schönen Vaterstadt durch Umsicht, Tatkraft und straffe Leitung einer neuen Blüte entgegenzubringen.

Damit schließt der Schreiber dieser Zeilen, ein Alsfelder Kind aus der Liederbach getauft, die Kriegschronik der Stadt Alsfeld ab, die späteren Geschlechtern einen Einblick in die schweren Geschehnisse der Kriegszeit vermitteln soll.

Noch ist die Not auf allen Gebieten unsäglich groß, insonderheit der Ernährungsverhältnisse, und die Besatzungsdauer ist nicht abzusehen, noch sind Raubüberfälle und Diebstähle an der Tagesordnung. Und doch heißt es, nicht fruchtlose Rückschau zu halten, sondern den Blick geradeaus in die Zukunft zu richten, mitzuhelfen am gemeinsamen Wiederaufbau eines lebenswerten demokratischen Deutschland. Nach Ruhe in der Heimat, nach Frieden in der Welt sehnt sich das gequälte Menschenherz!

Alsfeld, 15. April 1946

Julius Heinrich Waldeck (geb. 21.02.1870)

Anmerkung:

[…?] = Hinweis auf Fehler oder Auslassungen bei der Transkription der handschriftlichen Aufzeichnungen.

Erstveröffentlichung

in: Karl Dotter, Dr. Karl Völsing, Julius Hch. Waldeck: Kriegs-Chronik 1939. (Alsfelder Kriegschronik 1939-1945), am 01.09.1939 begonnen und geführt von Karl Dotter, Oberreallehrer, Stadtarchivar. Nach dessen Tod am 17.09.1940 fortgeführt von Bürgermeister Dr. Karl Völsing. Ab dem 24.03.1945 wurde Julius Hch. Waldeck, Mitbegründer des Geschichts- und Altertumsvereins von 1897, mit der Weiterführung der Chronik durch den Bürgermeister Dr. Völsing beauftragt, und die Fortführung durch die Bürgermeister Rosenkranz und Staab verfügt. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, HStAD O 72, Nr. 215, 1948.

[Stand: 19.06.2024]