Gedenken an die Opfer des NS-Regimes

Von Dr. Monika Hölscher, Alsfeld (2024) – Vortrag am 27.01.2024 zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Als auf Initiative von Heinrich Dittmar am 27. Januar 2014 der Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus im Beisein von Bürgermeister Stephan Paule und Steinmetzmeister Kurt Schmidt eingeweiht worden ist, hatte sich Heinrich Dittmar gewünscht, dass nun jedes Jahr am 27. Januar eine kleine Gedenkstunde hier an dieser Stelle stattfinden würde. Nach 10 Jahren hat nun der SPD Ortsverein die Initiative dafür ergriffen. Vielen Dank! Und ich freue mich auch sehr, dass die Kinder von Heinrich Dittmar aus Frankfurt angereist sind, um dieser Gedenkfeier beizuwohnen.

Gedenkstein beim Amtsgericht Alsfeld
© GFA

Zu den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung zählt, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Abstammung, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist. Der Nationalsozialismus fand nicht nur in Berlin, Nürnberg oder München statt, sondern infiltrierte die Gesellschaft des Deutschen Reichs bis in den letzten Winkel. Daher gibt es auch in Alsfeld und Umgebung viele Opfer zu beklagen, auf die ich nun kurz eingehen möchte.

Juden

Dazu gehören an erster Stelle die rund sechs Millionen ermordeten Juden, darunter auch viele Alsfelder. Auf einigen Grabsteinen auf dem Jüdischen Friedhof auf dem Frauenberg, bei der christlich-jüdischen Totenhalle, kann man lesen: „Gestorben in Theresienstadt“. Theresienstadt war zwar kein Konzentrationslager sondern ein Ghetto [1], was aber die Leiden der Menschen, die dorthin „umgesiedelt“ worden waren, nicht geringer machte: Sie verhungerten, starben an Krankheiten, Entkräftung oder wurden zu Tode gequält. Das Ghetto Theresienstadt war ein Ort des Terrors. Von hier aus wurden die, die überlebten, in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Insgesamt wurden über 100 Alsfelder Juden ermordet [2] – von ehemals 230 hier ansässigen im Jahr 1933 (das entspricht ca. 4% der damaligen Alsfelder Bevölkerung). Neben den Stolpersteinen und der Gedenktafel am ehemaligen Platz der Alsfelder Synagoge erinnern auch noch die Anne-Frank-Straße und eine Gedenktafel am Ort der ehemaligen Synagoge in Angenrod sowie die Gedenkstätte Haus Speier an Juden in Alsfeld und den Ortsteilen während der Zeit des „Dritten Reichs“.

Ein jüdisches Schicksal möchte ich an dieser Stelle kurz erwähnen. Es handelt sich um Jakob Spier, geb. 1908, aus einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie in Schrecksbach. Er besuchte ab 1919 die Alsfelder Oberrealschule und begann 1927 mit einem Medizinstudium, erst in Heidelberg, dann in Marburg. Marburg war auch der Ort, an dem Julius Spier am 26. August 1933 mit einem Schild, auf dem stand: „Ich habe ein Christenmädchen geschändet!“ vom Mob durch die Straßen getrieben wurde. Julius und sein Bruder Max überlebten trotz übelster Behandlung den Holocaust und konnten in die USA fliehen.

Zu den aus rassistischen Gründen Verfolgten zählten auch Sinti und Roma. Die in Alsfeld geborene Sintezza Anna B. hat die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück als Einzige ihrer Familie überlebt. Der Sinto-Junge Georg Winter aus Grebenau hatte nicht so viel Glück. Er wurde 1943 ins sogenannte „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau deportiert und wahrscheinlich dort in der Gaskammer ermordet [3].

Erinnert werden soll auch an die Toten der Euthanasieprogramme der Nazis. In den „Euthanasie“-Gasmordanstalten und anderen Heil- und Pflegeanstalten wurden etwa 300.000 Menschen durch Gas, Medikamente oder gezieltes Verhungernlassen ermordet. In der hessischen Euthanasiemordanstalt Hadamar bei Limburg, heute eine Gedenkstätte, wurde auch eine Alsfelderin, Emilie R., in der Gaskammer im Keller ermordet. An ihr Schicksal wurde in der alten Ausstellung erinnert.

Andere Opfer des Nationalsozialismus gehörten Gewerkschaften an, die ab dem 2. Mai 1933 verboten worden sind, Homosexuelle, Bibelforscher (Zeugen Jehovas), sogenannte „Asoziale“, Frauen und Männer, die sich mit „Fremdvölkischen“ einließen, ich erwähnte das Beispiel des Julius Spier, u.a. mehr.

Widerständler

Den meisten Menschen fällt bei „Widerstand“ gegen das Nazi-Regimes der 20. Juli 1944 ein, das gescheiterte Attentat auf Hitler, durchgeführt von Männern um Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Unter den vom Volksgerichtshof unter Vorsitz des aus Kassel stammenden Roland Freisler zum Tode verurteilten sogenannten „Verschwörern“ war auch der ehemalige hessische Innenminister Wilhelm Leuschner, nach dem man in Alsfeld eine Straße benannt hat. Doch der Widerstand im „Dritten Reich“ war vielfältig. So genügte oft auch nur die Mitgliedschaft in der SPD oder der KPD, um vom Regimes „bestraft“ zu werden. Vier Alsfelder Sozialdemokraten wurden im Juni 1933 aus der Gemeindevertretung „entfernt“ und kamen in Schutzhaft ins KZ Osthofen, heute eine Gedenkstätte in Rheinland-Pfalz, damals Volksstaat Hessen. Zu ihnen gehörte Karl Braun. Andere, wie Konrad Geisel, nach dem in Alsfeld ein Platz gemeinsam mit seiner Frau Änne benannt ist – bis 2015 erinnerte auch der Name der Altenpflegeschule an das Ehepaar, verloren ihre Jobs und mussten sich und ihre Familien mühsam bis zum Kriegsende durchbringen [4]. Wegen „kommunistischer Mundpropaganda“ sind 1937 zwei Brauerschwender vor dem Oberlandesgericht Kassel verurteilt worden – Denunziation spielte dabei mit Sicherheit eine Rolle.

Zwangsarbeiter

Fremd- und Zwangsarbeiter wurden in unzähligen Bereichen eingesetzt. Auf fast jedem Bauernhof war ein Zwangsarbeiter beschäftigt – auch im Vogelsberg. Auf dem Alsfelder Friedhof sind in den Jahren 1940 bis 1945 fast 30 Zwangsarbeiter beerdigt worden, neben den zahlenmäßig am stärksten vertretenen Polen waren es Russen, Holländer, Italiener und Ukrainer, auch vier Säuglinge waren darunter und drei Frauen [5]. Mitte 1944 waren nach einer Zusammenstellung der Stadt Alsfeld 132 Männer und 295 Frauen, insgesamt 427 Menschen, als ausländische Arbeitskräfte in unserer Stadt „beschäftigt“ [6] – bei dieser Zahl sind mit Sicherheit auch die Kriegsgefangenen berücksichtigt. Eingesetzt waren sie in Kirtorf, Eudorf, Ober-Ofleiden, Altenburg, Seibelsdorf, Meiches, Fischbach, Leusel, Dannenrod, Schellnhausen und anderen Dörfern in der Umgebung. Auch in zahlreiche Industriebetriebe, wie beispielsweise Bücking, der Stuhlfabrik Türpe, der Holzwerke Wilhelmi, der Firma Grünewald und der Hutfabrik Rockel, die kriegswichtige Waren produzierten, oder der Fuhr‘schen Fabrik bei Altenburg, wurden sie vom Arbeitsamt vermittelt. Einige dieser Firmen hatten z.T. sogar eigene Barackenlager. An sie alle wird im Vogelsbergkreis durch das MUNA-Museum in Grebenhain erinnert, dessen Ausstellung sich mit der Luftmunitionsanstalt Hartmannshain beschäftigt. Anfangs kamen diese Menschen noch mehr oder weniger freiwillig ins „Deutsche Reich“ zum Arbeiten, erlagen den Verlockungen der Werbung auf ein gutes Leben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs jedoch wurden sie zwangsweise verschleppt, um die Männer, die an der Front waren, zu ersetzen.

Kriegsgefangene

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs mussten von den Nazis Lager für die Kriegsgefangenen eingerichtet werden. Eines davon lag nicht weit von Alsfeld, das Mannschaftsstammlager Stalag IX A Ziegenhain, die heutige Gedenkstätte Trutzhain. „Prominentester“ Kriegsgefangener dort war der spätere französische Staatspräsident Francois Mitterand. 1944 betrug die Zahl der Kriegsgefangenen in Trutzhain 53.000 Menschen, darunter 12.000 Sowjets. Die Lebensbedingungen in den Kriegsgefangenenlagern waren katastrophal. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kriegsgefangene die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden sind, und hier vor allem russische. Von Ziegenhain aus wurden die Kriegsgefangenen in Arbeitskommandos in die umliegende Gegend zu Arbeitseinsätzen verschickt [7]. Alleine im Altkreis Alsfeld gab es mindestens drei solcher Lager: im Zeller Weg (für den RAB = Reichsautobahnbau) sowie zwei Lager für französische Kriegsgefangene. Weitere Arbeitskommandos im Vogelsberg für Franzosen gab es in Bermuthshain, Bernsburg, Crainfeld, Eifa, Hattendorf, Kirtorf, Lauterbach, Leusel, Lingelbach, Maar, Queck, Nieder-Ohmen, Ober-Gleen, Ruppertenrod, Sellnrod, Stumpertenrod, Udenhausen, Ulrichstein, Wallenrod, Zell und Gleimenhain; Polen kamen zur Zwangsarbeit u.a. in Eifa zum Einsatz, Sowjets in Hattendorf, Hochwaldhausen, Ilbeshausen und Nieder-Ohmen, weitere Arbeitskommandos gab es in Altenburg (RAB), Berfa und Zeilbach.

Größere Gefangenenlager existierten in Breungeshain und Ober-Gleen, beide waren Außenlager des Strafgefangenenlagers Rollwald bei Dieburg. Ober-Gleen war das größte Lager der Forstwirtschaft, ein Barackenlager für 250 Gefangene aus Deutschland, Österreich, Frankreich und den Benelux-Ländern. Mit der Flucht der Wachmannschaft im April 1945 löste es sich auf. Das Wissen um weitere Kommandos erweitert sich ständig. Diese Aufzählungen zeigen jedoch schon mehr als deutlich, wie gut die „Volksgemeinschaft“ funktionierte, wie unendlich tief die Infiltration durch das Unrechtsregime ging, wie normal das alles war.

In den letzten Jahren haben antisemitische und rassistische Vorfälle in Deutschland wieder stark zugenommen, vor allem in den letzten Wochen. Es ist aus meiner Sicht wichtig, am 27. Januar auch an unsere Aufgabe im Kampf dagegen zu erinnern. Die bundesweiten Proteste am letzten Wochenende gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus machen Mut, machen aber auch deutlich, dass Demokratie nach wie vor kein Selbstläufer ist, sondern immer wieder verteidigt werden muss – durch uns!

Erinnern möchte ich an dieser Stelle auch an die deutschen Kriegsgefangenen. 1946 kehrten die ersten Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, 1956 die letzten in Herleshausen in Hessen.

Bombenopfer in Alsfeld

Alsfeld hatte im Zweiten Weltkrieg „Glück im Unglück“: Lediglich bei einem Bombenabwurf am Schützenrain mussten zehn Menschenleben beklagt werden, darunter auch die zwei amerikanischen Piloten, einer von ihnen ist auf der Alsfelder Polizeiwache im Weinhaus ermordet worden [8].

Gefallene und Vermisste

Am 15. November 1953 wurde auf dem Alsfelder Friedhof das Ehrenmal für die Toten des Zweiten Weltkriegs eingeweiht. Es war ihm ein Streit um die Inschrift vorausgegangen: Die ursprünglich vorgesehene Inschrift „Den Opfern“ wurde, vor allem auf Bestreben des Vorsitzenden der Ortsgruppe Alsfeld des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, Lehrer Jakob Hartmann, umgeändert in „Unseren Toten des Zweiten Weltkrieges“. Jakob Hartmann (1894-1976) war es auch, der in der Oberhessischen Zeitung vom 13. und 16. November 1953 die Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen und vermissten Alsfelder Soldaten und Zivilpersonen veröffentlichte. Die Zahl der gefallenen Soldaten betrug demnach 331, und die der Vermissten 196, zusammen also 527 Alsfelder, die nicht mehr heimkehrten. Darunter auch mein Großvater Heinrich Hölscher.

Fasst man alle menschlichen Verluste in Alsfeld zusammen, kommt man auf eine Zahl von mindestens 650 Toten, bei geschätzten 5.500 Bewohnern also über 10%! Es waren Opfer, Täter, Mitläufer und Nichtwissende, aber auch Verwandte, Freunde, Schulkameraden, Nachbarn.

Krieg, Flucht und Vertreibung gibt es wahrscheinlich schon so lange, wie es Menschen gibt. Und wir sollten nie vergessen, dass auch wir einmal davon betroffen waren: Vielerorts, auch in Alsfeld, erinnern Straßennamen wie Sudetenstraße und Ostpreußenstraße, an das Schicksal von Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen – es ist erst 70 Jahre her.

Anmerkungen:

[1] Vgl. W. Benz: Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013, S. 9ff.

[2] Dittmar, Heinrich / Jäkel, Herbert: Geschichte der Juden in Alsfeld, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e.V., Alsfeld 1988.

[3] Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945: Hessen II Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Frankfurt 1996

[4] Jäkel, Herbert: Demokratischer Neubeginn, in: Heimat-Chronik Alsfeld, 13. Jahrgang, 1996, Heft 3, S. 1-4.

[5] Alsfelder Friedhofsbuch

[6] Jäkel, Herbert: Displaced persons in Alsfeld (2. Teil), in: Heimat-Chronik Alsfeld, 15. Jahrgang, 1998, Heft 2, S. 1-2.

[7] Heimat-Chronik 2/1998 (Helmuth Riffer) / Lazarettkrankenbuch Hephata / Archiv Gedenkstätte und Museum Trutzhain / IRO Bad Arolsen / Staatsarchive Darmstadt und Marburg

[8] Vgl. u.a. Axel Pries, Oberhessen Live am 23.02.2015.

Verweis:

Dr. Monika Hölscher: Gedenken an die Opfer des NS-Regimes. Vortrag anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, Manuskript, Alsfeld am 27.01.2024.

[Stand: 10.02.2024]