Von Prof. Dr. Eduard Edwin Becker, Alsfeld (1908)
Ob vor dem Dreißigjährigen Kriege schon Ärzte in Alsfeld waren, lässt sich bis jetzt nicht nachweisen. Das erste Zeichen der Anwesenheit eines Arztes in der Stadt ist ein Dekret von Bürgermeister und Rat der Stadt Alsfeld, ausgestellt am 7. November 1655 für den Herrn Johann Bartholomäus Schleyermacher, medicinae candidatus. Er hatte sich bereits „bis zu besserer Gelegenheit“ in der Stadt niedergelassen, war von dem „jetzigen Magnifico bei der löbl. Universität zu Gießen, Herrn Johann Thacken, Medicinae Doctori, absonderlich hierzu vorgeschlagen“ und hatte sich „seiner Geschicklichkeit, auch glücklich volbrachter Curen halber bestermaßen recommendirt.“ Nun hatte er um ein subsidium, ein festes Gehalt gebeten. Zwar war die Stadt durch den blutigen Krieg schwer zurückgekommen. „Dieweil wir aber“, so heißt es in dem Dekret, „befinden, dass bei ereigenden Anstößen gemeiner Stadt und Bürgerschaft, auch den benachbarten auf dem Land an einem dergleichen qualifizierten Subjecto nicht wenig gelegen, ohngesehen dasselbe aus den Notfall wegen Ferne des Wegs entweder kostbarlich gesucht oder [Seite-114] auch wohl gar arme Patienten, denen durch göttliche Hilf und ordentliche Mittel manchmal noch wohl geholfen werden könnte, in großen Nöten und Gefahr, bis sie darüber gar verderben, gelassen werden müssen“, hat die Stadt ihm ein Gehalt von zwanzig Gulden ausgesetzt, zwölf aus dem Feuerschillingsrezeß, acht von den Weinmeistern. Ferner wurde ihm zugesagt: „dafern sich derselbige vorträglich zu sein erachtet, einen Gebräu Bier zu tun, auch mit einem Malz geschickt und sich bei einem regierenden Bürgermeister vorhero zeitlich anmelden würd, dass ihme damit gegen Entrichtung der gewöhnlichen Gebühr, auch mit eingeholfen werden soll.“ Endlich wurden ihm mit Bewilligung des Superintendenten zu Gießen und des Inspektors M. Happel aus den Hospitalsfrüchten vier Viertel Korn versprochen, „doch dass er auf begebenden Fall auch der Armen im Hospital sich notdürftig annehme. Dagegen erwartet die Stadt, dass er den Patienten willfährig begegne, „und nach seinem Verstand nötige und vorträgliche medicamenta praescribire, auf erfordernden Notfall auch sich nicht lassen zuwider sein, ein oder andern, dofern es begehrt würd, heimbzusuchen und seinen Zustand umb so viel besser zu erkundigen. Endlich wurde ihm die Aufsicht über die Apotheke übertragen.
Dr. Schleiermacher wurde ein gesuchter Arzt. Die umliegenden Adligen nahmen ihn zum Hausarzt gegen eine feste Bestallung. Auch wurde er neben dem Stadtphysikat auch zum Landphysikus ernannt. Einen großen Bezirk hatte er mit ärztlicher Hilfe zu versehen. Aus einem Dekret der landgräflichen Beamten von 1674 können wir den Umfang seiner Praxis einigermaßen erkennen. Danach hatte er an Gehalt zu empfangen von
Stadt Alsfeld 18 fl.
Stadt Kirtorff 8 fl.
Stadt Romrod 6 fl.
Ampt Alsfeld 18 fl.
Ampt Romrod 28 fl.
Gericht Schwartz 6 fl.
Eussergericht 16 fl.
Summa 100 fl.
Da die auswärtige Praxis den vielbeschäftigten Mann oft tagelang außerhalb der Stadt festhielt – man denke an die schlechten Verbindungen in dem großen Bezirk – so machte sich das Bedürfnis nach einem zweiten Arzt geltend. Es war ein Stadtkind Johann Just Bücking, medicinae Doctor, der sich 1678 um die Stelle eines Adjunctus et Substitutus von Dr. Schleiermacher bewarb. Nur für die Zeit, die dieser außerhalb der Stadt sei, wolle er seine Stelle vertreten; er begehre nicht, „so wenig in Curen als in seiner Bestallung ihm einigen Eintrag zu tun.“ Da auch er sich schon auf tüchtige Kuren berufen konnte und ihm als einem [Seite-115] Stadtkind vor einem Dr. Wick, der sich auch um die Stelle bewarb, der Vorzug gebührte, so wurde ihm im Einverständnis mit Dr. Schleiermacher die Stelle zugesprochen, allerdings ohne jeden Gehalt. In der Folge erhielt er denn auch von der Landgräfin Elisabeth Dorothea die Erlaubnis „nebenst Dr. Schleyermachern in Stadt und Ampt Alßfeldt in Medicinalibus zu practiciren und treuen Fleiß mit anwenden zu helfen, sich aber im Übrigen fried- und schiedlich zu bezeigen, auch Dr. Schleyermachern an seinem Salario nichts zu entziehen.“
Bis 1682 blieb Dr. Schleiermacher in seinem Amt. Da wurde er, gewiss ein Zeichen für die hervorragenden Verdienste des Arztes, von der Landgräfin als Leib- und Hof-Medicus nach Darmstadt berufen, behielt aber sein Gehalt als Alsfelder Stadt- und Land-Medicus noch zwei Jahre.
Als er die Stadt verließ, schrieb er einen Abschiedsbrief, der so eigenartig ist, dass ich mir nicht versagen kann, ihn ganz wiederzugeben. Er zeigt eine Bibelkenntnis, [01] wie wir sie heute, nicht nur bei Ärzten, selten finden. Dazu singt er das Lob der Stadt in den höchsten Tönen, sodass ihn jeder Alsfelder gerne lesen wird hört doch noch heute der Alsfelder seine Heimatsstadt gerne loben.
Wohlehrnfeste, groß achtbare, fürsichtige und wohlweise Herren Bürgermeister und Rat. Großgünstige, hochgeehrte Herrn, wie dann ehrbare und ehrngeachte Beisitzer, günstige Freunde.
Denenselben ist vorhin bekannt, welcher gestalt durch göttliche Providenz und Schickung, von der durchleuchtigsten unserer gnädigsten Fürstin, Vormunderin und Regentin hochfürstlicher Durchlaucht zu dero unwürdigstem Leib und Hof Medico nacher Darmstadt ich gnädigst bin berufen worden, und zwar also, dass darneben mein bisheriges Stadt und Land Physicat bis auf annum 1684 mir auch aus Genaden darzu gelassen und gegönnt werden solle.
Ob nun zwar nicht zweifele, es werden meine großgünstigen Herrn und gute Freunde diese gnädigste Verordnung sich nicht missfallen lassen, und ich demnach der lieben und löblichen Stadt Alsfeld, als der durch sotane gnädigste Verordnung verbunden bleibe, nicht valediciren können noch wollen, so kann jedoch nicht umbgehen, bei nun bevorstehender Abreise nacher Darmstadt meinen großgünstigen Herren und guten Freunden und durch sie der lieben Stadt Alsfeld für die willfährige Auf und Annehmung meiner Wenigkeit und mir bishero erzeigtes Liebes und Gutes [Seite-116] fleißigen Dank zu sagen, auch mich und die Meinige zu dero beständiger affection und Wohlgewogenheit ferner bestens recommendiren, mit dienstfreundlicher Bitte, wann der fromme Gott etwan eines von meinen Kindern tüchtig machen würde, der lieben Stadt Alsfeld auch angenehme und ersprießliche Dienste zu erweisen, solches alsdann nicht zu verschmähen, sondern großgünstig zu befördern und anzunehmen.
Wird mir der liebe Gott hingegen gönnen, ferner angenehme Dienste zu erweisen, werde solches allzeit mir sorgfältig angelegen sein lassen, auch nach Vermögen treulich verrichten.
Und nachdem mich wohl erinnere, dass des Menschen Aus- und Eingang in Gottes Händen stehe, derselbe auch alle Tage auf sein Buch geschrieben habe [Psalm 139, 16], die Zahl aber deroselben dem Menschen verborgen sein [Hiob 15 V. 20], und ich dannenhero nicht wisse, ob es Gott werde gefällig sein, mich wiederumb anhero zu führen oder nicht (welches dann dem gnädigen Willen Gottes in christlicher Gelassenheit anheimstelle), so befehle hiermit meine großgünstigen Herren und gute Freunde zusampt der lieben Stadt Alsfeld und allen dero Einwohnern in den gnädigen Schutz des Allerhöchsten, und wüntsche aus allen Kräften meines Herzens, dass das liebe Alsfeld allezeit möge Gottes Stadt sein und bleiben. Derselbe wolle sein heiliges Wort und Evangelium sampt denen heiligen Sacramenten rein und ohnverfälscht in dir, du wertes Alsfeld, erhalten, dass Jedermann mit Lust deinen schönen Gottesdienst (dessen ich nicht vergessen werde) schaue und deine Tempel besuche [Psalm 27 V. 4). Er behüte deine und meine hohe landesfürstliche Herrschaft. Er gebe derselben langes Leben, und ihre Jahre müssen währen für und für. [Psalm 102 V. 25]. Er bestätige den Thron derselben mit Gerechtigkeit und mache ihren Stuhl fest durch den edlen Frieden, dass wir unter ihrem Schutz und Schirm ein geruhiges stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. [1. Tim. 2 V. 2]. Gott lasse deine Lehrer und Prediger in dir leuchten wie das Firmament [Daniel 12 V. 3], dass sie ein guter Geruch Christi seien [2. Kor. 2 V. 15] und Gottes Wort aus Lauterkeit und als aus Gott für Gott reden in Christo [2. Kor. 2 V. 17]. Ihr Gebet müsse für ihm tügen wie ein Rauchopfer Psalm 141 V. 2], dass keines aus deiner ihnen anvertrauten christlichen Gemeine und Herde umbkomme noch verloren seie. [Joh. 6 V. 39]. Deine Obrigkeit sei Gottes Dienerin dir zu Gut [Röm. 13 V. 4] und ihre Hand müsse deinen Feinden zu stark werden [Richter 3 V. 10]. Deine grauen Häupter müssen weise und deine Alte klug sein [Sirach 25 V. 6]; Gott lasse es dir niemals an einem sorgfältigen Joseph gebrechen [1. Mos. 41]. Und weilen von Machir sind Regenten kommen und von Sebulon Regierer worden durch die Schreibfeder [Richter 5 V. 14), so wolle [Seite-117] Gott doch deine Schule schützen, derselben allzeit fromme Hauptleute geben, die sie bauen. Er wolle deren treue Praeceptores und ihre große Arbeit und Fleiß segnen und ihnen reichlich vergelten, sie auch erhalten, dass sie mit freudigem Mut wie bishero dieselbe verrichten, damit deine Kinder in der Furcht und Vermahnung zum Herrn erzogen [Eph. 6 V. 4] und durch dessen gnädige Verleihung noch ferner viele Doctores und fürtreffliche Säulen in allen Ständen daraus genommen werden, und also dein bereits mit Gott erworbener Ruhm immer wachse und zu nehme. Deine ehrbaren Gilden und Zünfte lasse Gott als Brüder einig sein, deine Nachbarn sich lieb haben und Mann und Weib in dir sich wohl mit einander begehen [Sirach 25 V. 2]. Gott sei deiner Wittwen Mann und deiner Waisen Vater [Psalm 68 V. 6). Er lasse deine jungen Knaben geraten wie die Pfeile in der Hand eines Starken [Psalm 127 V. 4] und deine Kinder wie die Oelzweige wachsen [Psalm 128 V. 3]. Nun, du liebes Alsfeld Gott sei bei dir, Gott helfe dir frühe [Psalm 46 V. 6], dass du lustig bleibest mit deinem Brünnlein, wo die Wohnungen des Höchsten sind [Psalm 46 V. 5]. In dir müsse Ehre wohnen, Güte und Treu einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen [Psalm 85 V. 10. 11]. Gott liebe deine Tore und herrliche Dinge müssen in dir gepredigt werden, du Stadt Gottes [Psalm 87 V. 2. 3], und sein Ruhm durch deine Musicalischen Chöre bis in den Himmel erschallen.
Darumb wüntschet Alsfeld Glück, es müsse wohl gehen denen, die dich lieben, es müsse Frieden sein einwendig in deinen Mauren und Glück in deinen Palästen [Psalm 122 V. 6.7] immer und ewiglich. Und dieses wüntschet von Gott herzinniglich bei seinem nun nach dessen heiligen Willen bevorstehendem Abzug zu gutem Andenken
Euer wohlehrnfesten und wohlweisen
Großgünstigen
wie auch der lieben Stadt Alsfeld
treudienstgeflissenster
Joh. Bartholom. Schleiermacher.
Alsfeld, den 13t. Junii 1682
In einem schwülstigen Schreiben dankte der Rat für den Abschiedsbrief und stellte dem Scheidenden ein Abschiedsgeschenk in Aussicht, das ihm auch zu Teil wurde. In der Ferne bewährte er sich in der Tat als ein treuer Freund der Stadt, wie er es versprochen hatte. Die Stadt erkannte das dankbar an, als sie 1697 seinem Sohne Georg Ludwig die Anwartschaft auf die damals durch Dr. Müßigang besetzte Stelle erteilte. Schleiermachers unmittelbarer Nachfolger wurde dagegen Joh. Just Bücking, der aber schon 1688 starb, und dem Dr. Georg Wick folgte.
Anmerkung:
[01] Um diese zu zeigen, sind die – natürlich nach dem alten Wortlaut – angeführten Stellen aus allen Teilen der Bibel angegeben. Einige Stellen, die ungenau gegeben sind, zeugen gerade für die mächtige Bibelkenntnis des Mannes, der alle diese Sprüche im Gedächtnis hatte.
Erstveröffentlichung:
Eduard Edwin Becker, Die Heilkunde in Alsfeld. Dr. Johann Bartholomäus Schleiermacher, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 2. Reihe, Nr. 5, 1908, S. 113-117.
[Stand: 16.02.2024]