Von Dr. Norbert Hansen, Alsfeld (2024)
Ja, es war nach § 2 Abs. 1 des hessischen Denkmalschutzgesetzes ein schützens- und erhaltenswertes Gebäude. Noch 2002 wurde es in der „Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen. Stadt Alsfeld“, ein reich bebildertes Werk, das in vielen Alsfelder Bücherschränken zu finden ist, aus geschichtlichen und städtebaulichen Gründen als Kulturdenkmal ausgewiesen. Ein Foto, vermutlich aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, zeigt das stattliche Doppelhaus Nr. 18 und 20 unter einem gemeinsamen Dach (nach dem heutigen Liegenschaftskataster die Flurstücke 388 und 389). (Abb. 1)
Am Südrand der Altstadt gelegen grenzte es direkt an das ehemalige Hospitalgelände mit der Dreifaltigkeitskirche. Die Verschieferung der beiden Fachwerkgiebel erfolgte wahrscheinlich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Strommast auf dem Dach belegt die nach der Jahrhundertwende durchgeführte Elektrifizierung des Hauses. Der heute an der Ecke zur Volkmarstraße stehende Trafo-Turm wurde erst später erbaut.
Bewohnt war das Haus schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Der äußere Zerfall – die Zerstörungen im Innern durch Pilz- und Schwammschäden waren nicht minder gravierend – wurde seit 2004 in der örtlichen Presse immer wieder kritisch kommentiert. Wie der Oberhessischen Zeitung vom 14. Mai 2019 zu entnehmen war, galt der Roßmarkt 18/20 als „nicht mehr zu rettendes Gebäude“. (Abb. 2)
Vorstellungen des früheren Besitzers Architekt Herbod Gans von einer Ersatzbebauung nach Abriss konnten mit den Anforderungen des Stadtbauamtes und der Unteren Denkmalbehörde nicht in Einklang gebracht werden. Als Ende 2023 der Verkauf des Areals an die Stadt zustande kam, sollte es mit dem Abbruch plötzlich sehr schnell gehen. Anlässlich der vom 13.-17. Mai 2024 erfolgten Niederlegung ist daher ein aktueller geschichtlicher Rückblick angebracht, insbesondere auf das Umfeld des Hauses.
Als wichtigste Quelle steht aus dem Stadtarchiv ein sogenannter Handriss von 1829 zur Verfügung, der wohl älteste „Stadtplan“ Alsfelds. Der abgebildete Ausschnitt zeigt die Bebauung des ehemaligen Klostergeländes und seines Umfeldes an der noch geschlossenen Stadtmauer. (Abb. 3) Die Volkmarstraße gab es noch nicht. Mit der „Stücker-Nummer“ 163 ist in starker Vereinfachung der Grundriss der Dreifaltigkeitskirche bezeichnet. An ihrer Nordseite stehen die vier Gebäude 164, 165, 166 und 167. Die beiden letzteren entsprechen den heutigen Flurstück-Nummern 388 und 389 für das Doppelhaus Roßmarkt 18/20.
Wiederum mit Hilfe eines wertvollen Dokuments aus dem Stadtarchiv, dem ältesten Häuserkataster der Stadt von 1688/1700, konnten die frühesten Bewohner ermittelt werden. Im Roßmarkt 18 war dies der Wollweber Caspar Herrmann, 1679 als Bürger aufgenommen und demnach um 1650/1655 geboren. Im Haus 20 wohnte der Schmied Elias Fink, gemäß seiner Bürgeraufnahme 1663 schätzungsweise um 1640 geboren. 1671 bekleidete er das Amt des Opfermannes (Kirchendiener) in der Dreifaltigkeitskirche. Bekanntlich hatte das gewaltige Gebäude in der Nachreformationszeit seit 1527 ungenutzt leer gestanden und war in der Endphase des 30-jährigen Krieges 1646 schwer beschädigt worden. Erst 1664 erfolgten nach Renovierung eine Neuweihung und Nutzung als Kirche.
Wann das Doppelhaus Roßmarkt 18/20 so, wie man es bisher kannte, errichtet wurde, ist unbekannt. Beim jetzigen Abbruch fand sich unter der Schieferverkleidung an der Straßenfront keine Balkeninschrift, die Bauherr und Baujahr genannt hätte. Aus einem Bestandsplan des Kellergeschosses, der dem Verfasser vor Jahren vom früheren Besitzer freundlicherweise überlassen wurde, ist aber ersichtlich, dass nur ein Teil der überbauten Gesamtfläche unterkellert war. Es kann also eine Vorgängerbebauung zweier kleinerer Häuser mit gewolltem Abstand zum Kirchengebäude bzw. Hospitalgelände vermutet werden. (Abb. 4)
Damit kommt der historisch interessanteste Teil des Gebäudekomplexes in den Blick: Die rückwärtige, steinerne Mauer, die heute im Westen bis an einen Strebepfeiler der Kirche reicht, ursprünglich aber knapp zwei Meter kürzer war. Die Giebelwand des Hauses Roßmarkt 18/20 wirkt wie nachträglich aufgesetzt, mit einen geringen Versatz nach Norden. Alles deutet auf eine frühere Gebäudeerweiterung (19. Jahrhundert?) ohne Unterkellerung bis an eine diese vorhandene, ältere Mauer hin. Gehörte sie zu einem ganz anderen Gebäude und war die noch erkennbare, zugemauerte Türöffnung sogar ein Ausgang? (Abb. 5)
Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um das Restmauerwerk eines früheren Gebäudes, das im erwähnten Handriss von 1829 die Stücker-Nr. 168 trägt und direkt vor das Chorpolygon der Dreifaltigkeitskirche gesetzt worden war. Als Besitzer werden im „Brand Assecurations Cataster der Stadt Alsfeld“ von 1777 unter der Nr. 474 „Die Vorsteher und Erheber derer Gefälle des Hospitals“ genannt; das Gebäude selbst ist „des Pachters Behausung“ mit einer Scheuer und einem „Pferdt-Stall“. Zur Erklärung: Beaufsichtigung und Organisation des Hospitals waren damals einem Ratsherrn zugeordnet und offenbar mit erheblichem Zeitaufwand verbunden. Deshalb gab es ab 1695 einen „Pachter“, der sich um die Landwirtschaft und die Verpflegung der Pfründner zu kümmern hatte. Auch hier liefert der Handriss von 1829 wieder wichtige Orientierung: Das längliche Gebilde in Abb. 3 mit der Nr. 170 am rechten Rand des Hospitalgeländes ist das nach Bauvertrag von 1759 errichtete Pfründnerhaus für Menschen, die sich dauerhaft Unterkunft und Pflege im Alter erkauft hatten. 1859 wurde es wegen Baufälligkeit niedergelegt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts verläuft dort die Volkmarstraße. Das an der Stadtmauer gelegene Gebäude 169 („Armenhaus“) ist das heutige Spitalgebäude, und die Stücker-Nrn. 168a und 168b sind im Handriss als „Hof mit abgerissenem Baugrund“ bzw. „Garten hinter der Kirche“ bezeichnet.
Wie geht es jetzt weiter mit der „Baulücke“? Zunächst wird in den nächsten Wochen das Landesamt für Denkmalpflege nach einer Ortsbesichtigung entscheiden, ob noch archäologische Untersuchungen im Kellerbereich durchzuführen sind. (Abb. 6)
Wie der Oberhessischen Zeitung vom 15. Mai 2024 zu entnehmen war, plant die Stadt Alsfeld eine Machbarkeitsstudie für eine mögliche zukünftige Nutzung des Gesamtareals unter Einschluss der Dreifaltigkeitskirche und des Klostergartens. Mit der Ankündigung der Evangelischen Kirchengemeinde Alsfeld vom 16. Juni 2023 (Oberhessische Zeitung), das historische Gebäude als Gotteshaus aufzugeben, bieten sich jetzt völlig neue Denkansätze. Was den Klostergarten anbetrifft, sei in Erinnerung gerufen, dass es schon 1954 Überlegungen gab, ein „Freilichttheater“ einzurichten. Im Stadtarchiv befindet sich hierzu eine Planungsskizze von 1958 über eine Ausgestaltung mit Bühne und einem Zuschauerbereich für bis zu 670 Plätze!
Soweit eine aktuelle Kurzdokumentation über das Verschwinden eines weiteren Alsfelder Gebäudes am Altstadtrand, das einmal als schützens- und erhaltenswert galt. Eine erweiterte Fassung, möglicherweise mit zusätzlichen archäologischen Erkenntnissen, ist zur Veröffentlichung in den Mitteilungen des Geschichts- und Museumsverein Alsfeld zum Jahresende eingeplant.
Die Veröffentlichung des Textes, der Fotografien und Grafiken im Rahmen des Internetprojekts www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde vom Autor genehmigt. Vielen Dank!
[Stand: 30.05.2024]