Von Prof. Dr. Eduard Edwin Becker, Alsfeld (1908)
Der nachfolgende vergnügliche Aufsatz unseres Ehrenmitglieds Herrn Lic. Herrmann wird unseren Freunden gerade jetzt nach dem Umbau des Beinhauses besonders willkommen sein. Von der Vergangenheit des Beinhauses ist wenig bekannt. Rechts von der Türe befindet sich ein Wasserausguss (piscina), der zu liturgischen Zwecken notwendig war, demnach diente der obere Raum als Kapelle. Vielleicht bezieht sich der Ausdruck altar zu sente Annen in der crofft zu Alsfelt auf diese Kapelle, wonach ihr Altar der heiligen Anna, der Mutter der Maria, gewidmet gewesen wäre. Die steinerne Kanzel, die wir noch heute an der Außenseite der Friedhofskapelle sehen, gehörte nach der Chorographie zu der „Darre“, eben unserm Beinhaus, und wurde nach ihrer Inschrift 1610, also gerade hundert Jahre nach der Erbauung des Beinhauses, an der Friedhofskapelle angebracht.
Die Sitte, die Totengebeine in besonderen Häusern zu sammeln und auszustellen, kam in evangelischer Zeit ab. Auch die Kapelle war für die Zwecke des evangelischen Gottesdienstes entbehrlich. So wurde sie für einen weltlichen Zweck verwandt, als „Darre“ zum Dörren des Malzes. Mit diesem Namen ist sie durch die Jahrhunderte gegangen bis in unsere Zeit. Brandspuren an der mächtigen Holzsäule in der Mitte des Kapellenraumes zeigen, dass einmal dem Bau die Vernichtung durch Feuer drohte. Im 19. Jahrhundert diente das Beinhaus eine zeitlang dem Turnverein als Turnhalle. Später wurde es von der Stadt veräußert und wurde zu den verschiedensten Zwecken benutzt.
Bei dem jetzigen Umbau wurde eine seltsame Entdeckung gemacht. Unter den das Dach tragenden Gesimssteinen fanden sich [Seite-138] an zwei Stellen (rechts über der Türe und an dem Chorraum auf der der Walpurgiskirche zugewandten Seite) in das Mauerwerk eingefügt drei bzw. vier Schädel. Sie waren mit der Hinterseite in Speiß gebettet. Davor befanden sich nur lose Ziegel, sodass zu vermuten ist, dass die Schädel ursprünglich offen standen. Ähnliche Erscheinungen sind unseres Wissens nicht beobachtet worden. Oder sollte die bretonische Sitte, nach der die Schädel besonders verdienter Toter gesondert von dem Leib sichtbar bestattet wurden, hier eine Parallele haben? Handelt es sich vielleicht um ein ernstes memento mori (gedenke des Todes)? oder ist es vielleicht einfach das Wahrzeichen des Beinhauses?
Fußnote:
[01] Staatsarchiv zu Darmstadt, Abt. IV, Conv. 40.
Ersterwähnung:
Eduard Edwin Becker, Das Beinhaus zu Alsfeld, in: Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsvereins der Stadt Alsfeld, 2. Reihe, Nr. 7, 1908, S. 137-138.
[Stand: 26.03.2024]