Von Karl Brodhäcker, Alsfeld (1972)
Jeder Besucher der alten Hessenstadt Alsfeld wird beeindruckt von der Schönheit mittelalterlicher Bauten, die die geschlossene Anlage des Marktplatzes säumen. Wie kaum in einer anderen Stadt stehen hier die Zeugen althessischer Bau- und Handwerkskunst Seite an Seite.
Den Schmuck der Runde bildet ohne Zweifel das Rathaus, das noch heute, wie zu allen Zeiten seit seiner Erbauung, die Stadtverwaltung beherbergt. Es ist nicht nur das sehenswerteste und wertvollste Gebäude der Stadt Alsfeld, sondern es stellt durch die äußerst harmonische und glückliche Verbindung des Steinsockels in spätgotischem Stil mit dem zweistöckigen Fachwerkbau und dem dreigeschossigen Giebeldach auch eines der interessantesten Bauwerke ganz Hessens dar.
Dass das von 1512 bis 1516 erbaute Rathaus einen Vorgänger hatte, geht schon daraus hervor, dass man anlässlich der Anlage eines Kanals in einer Tiefe von zwei Meter auf ein altes Fundament, auf verkohltes Holz und auf rote Steinplättchen eines ehemaligen Fußbodenbelages stieß. Über das Geschick dieses früheren Bauwerkes ist so gut wie nichts überliefert, alten Urkunden ist lediglich zu entnehmen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach um 1380 erbaut worden sein muss. Eine nicht nachweisbare Aufzeichnung aus dem Jahre 1741 aus der Feder des damaligen Stadtsyndikus’ Möller soll besagt haben, dass das Gebäude gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts abbrannte.
Der Baumeister des heutigen Rathauses wird urkundlich nicht erwähnt. Es wird jedoch angenommen, dass es sich um denselben Meister handelt, der das Neue Schloß in Gießen und das Rathaus in Schotten erbaute.
So wie die Stadt selbst hat das Alsfelder Rathaus eine bewegte Geschichte. Es erfuhr manche äußere und innere Veränderung. Wenig Geschmack bewiesen diejenigen Stadtväter, die die gotischen Bogen zumauern und das schmucke Fachwerk zum größten Teil verschindeln ließen. Im Jahre 1878, als das Rathaus in hohem Grade renovierungsbedürftig war, die Gelder für die entsprechenden Arbeiten von der Stadt jedoch nicht aufgebracht werden konnten‚ beschloss der Gemeinderat den Abbruch des Gebäudes. Es bedurfte langer Verhandlungen unter Einschaltung der Regierung, um diesen Beschluss aufzuheben. Die Gegenmaßnahmen wurden vor allem von dem damaligen Kreisrat Hofmann betrieben, dessen Initiative die Erhaltung des stolzen Baues in erster Linie zu verdanken ist. Durch eine Sammlung wurde schließlich im Jahre 1887 eine Renovierung ermöglicht, der im Jahre 1910 Verhandlungen zwischen der Stadtverwaltung und der Regierung wegen eines stilgerechten Umbaues folgten. In den Jahren 1910 bis 1912 wurde die Wiederherstellung des Gebäudes vorgenommen, anlässlich derer unter anderem auch die 1887 wieder aufgesetzten beiden Türmchen dem Stile des Hauses angepasst wurden. Die umfassende Renovierung erstreckte sich auch auf die Herrichtung der Innenräume, besonders im zweiten Stockwerk, das noch nach dem Jahre 1887 in äußerst schlechtem Zustande belassen worden war.
Ein schmuckes Kleid erhielt das Rathaus im Jahre 1950, als die Gemeindevertreter trotz der Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre und trotz der finanziellen Sorgen der Stadt das Äußere des Gebäudes gründlich überholen und auch die Innenräume renovieren ließen. Im Jahre 1967 wurden auch die beiden, früher abgebrochenen Türme auf der Rückseite des Baues wieder angebracht.
Während man in früheren Zeiten das Rathaus durch den damaligen Haupteingang, den kleinen Spitzbogen auf der Südseite der Halle (gegenüber der Rathaus-Apotheke) betrat, bieten sich uns heute von der Frontseite drei, von der Südseite zwei und von der Nordseite ein Torbogen zum Betreten der Halle an, die das Untergeschoß des Gebäudes bildet. In der Halle selbst fallen die beiden Steinsäulen auf, die, mit Zinnen geschmückt, die Last des Baues tragen helfen. Hier befand sich in früheren Jahrhunderten der „Triller“, ein Drahtkäfig, in dem Bösewichte eingesperrt wurden. Solche und ähnliche Strafen wurden zum Beispiel auch über diejenigen verhängt, die sich nicht an das in Alsfeld allein gültige Maß hielten, die Alsfelder Elle (1536), die an der Außenseite des linken Torbogens noch heute eingelassen ist.
Durch eine schlichte Tür gelangt der Besucher von der Halle aus auf einer steinernen Wendeltreppe ins erste Geschoss, in dem die Amtsräume der Alsfelder Stadtverwaltung untergebracht sind. Der Vorraum stellt gleichsam den Wegweiser zu den einzelnen Amtszimmern dar, in denen die Ausstattung dem Stil des Gebäudes aufs beste angepasst ist. Vor allem fällt die in Lärchenholz ausgeführte Täfelung auf. Die Balkonkonstruktion an den Decken, die aus dem Verputz herausgearbeitet ist, fügt sich in den Gesamteindruck harmonisch ein. In dem würdig und stilvoll eingerichteten Amtsraum des Bürgermeisters, in dem vielbesuchten Geschäftszimmer und den Räumen der Stadtsekretäre spürt der Besucher die Liebe und Sorgfalt, die die Stadtverwaltung und die Handwerksmeister der letzten Renovierung widmeten.
Interessanter als das erste ist das zweite Stockwerk, in das der Besucher über eine aus massivem Eichenholz im Jahre 1591 gefertigte Wendeltreppe gelangt. Allein diese Treppe mit ihren angearbeiteten Spindeln ist eine Sehenswürdigkeit, die von großem handwerklichen Können Zeugnis ablegt. Im Vorraum des zweiten Stockwerkes wird das Auge sogleich auf eine prachtvolle Renaissance-Tür gelenkt, die in das heutige Standesamtszimmer führt. Diese Tür, hinter der sich in früheren Zeiten das „ Gerichtsstübchen“ befand, ist ein Meisterwerk von Michael Fink, der 1590 Alsfelder Bürger wurde. Sie stellt das wertvollste Requisit des Rathauses dar. Außer der Holzarbeit sind die kunstvollen, handgeschmiedeten Eisenbeschläge besonders beachtenswert‚ die Meister Curt Obermann anfertigte. „Godt bewahre deinen Eingank und Ausgank von nuh an bis in Ewigkeit. Amen. Anno Domini 1604 M. (Michael) F. (Fink)“ grüßt ein Spruch den Besucher. Kunstvolle Einlegearbeiten weist die Tür an ihrer Innenseite auf. Der Gesamteindruck wird erhöht durch zwei schlanke Säulen, die einen mit prachtvollen Intarsien versehenen Fries tragen. Die bereits erwähnten Einlegearbeiten der Tür zeigen im oberen Teil Justitia mit Schwert und Waage.
Eine gotische Tür führt vom Standesamtszimmer aus in den Sitzungssaal der Gemeindevertretung. Eine wuchtige Holzsäule inmitten des Raumes trägt die Decke. Auch hier sind Decken und Wandverzierungen dem Stil des gesamten Gebäudes angepasst; Tafelparkett unterstreicht die Feierlichkeit des Saales. In stimmungsvolles Licht wird der Raum getaucht durch die bunten Butzenscheiben der Fenster an der Nordseite des Saales, die von Seiner Königlichen Hoheit, dem Großherzog von Hessen und bei Rhein, Ernst Ludwig, und Ihrer Königlichen Hoheit, der Großherzogin Eleonore, gestiftet wurden.
Vom Sitzungssaal führen zwei gotische Türen in den Vorraum, die durch ihre handgeschmiedeten Beschläge ins Auge fallen.
Wir steigen die Wendeltreppe wieder hinunter und erinnern uns dabei, dass in früheren Jahrhunderten der Ernst der Amtshandlungen, die in diesen Räumen vorgenommen wurden, durch einen Schoppen Wein aufgelockert wurde, dem nicht nur die Schöffen und Geschworenen, sondern auch Bürgermeister und Ratsherren während ihrer Amtshandlung zusprachen. „In vino veritas!“ Die Rathaushalle verlassen wir nun durch den einstigen Hauptausgang, über dessen gotischem Tor die Jahreszahl 1512 gemeißelt ist, dazu der Spruch: „RERU IRECUPERABILIU SUMA FELICITAS EST OBLIVIO“ („Höchstes Glück ist‘s, zu vergessen, was nicht wieder zu erreichen ist“).
Interessant ist, dass die Fachwerkanordnung des Alsfelder Rathauses epochemachend war. So schreibt der langjährige hessische Denkmalpfleger, Geheimer Baurat Prof. em. Dr. h.c. Heinrich Walbe in seinem Buch „ Das Hessisch-Fränkische Fachwerk“ (Brühlscher Verlag, Gießen) u.a. über das Alsfelder Rathaus: „[…] In den Jahren 1514 bis 1516 wurde der Oberbau in Fachwerk ausgeführt. Wir dürfen annehmen, dass dazu die Zimmerleute von Frankenberg herüberwanderten, die nun freilich einen regelrechten Rähmbau von 2 Haupt- und 3 Dachgeschossen schufen. Einen Rähmbau, aber doch nach ihrer Art, sie hatten das System der langen Streben mitgebracht, das ihnen aus ältester Zeit überliefert war, und wussten es nunmehr nach dem Erfordernis der Geschosshöhen anzuwenden. Die 40 Jahre vorher in Hessen eingeführte Gruppenteilung mit den sich verblattenden Strebefiguren lehnten sie ab, die alte ruhige, gleichmäßige Gefachteilung behielten sie bei, sie konnten die wandhohen Streben leichter in die Vierecke der Wand einfügen, wenn sie ihnen eine Krümmung gaben, mit der sich Pfosten und Riegel besser überschneiden ließen, mit der schließlich auch ein gewisser Rhythmus zu erreichen und zu betonen war. Die Horizontale aber ist es, die in jedem Rähmbau vorherrscht und auch das Alsfelder Rathaus abhebt von dem Frankenberger. Ihm ist Ruhe gegeben, und mit zwei oder vier Spitzhelmen über den Traufen großer Dachflächen begnügt es sich.
Das „Alsfelder Fachwerk“, das hier als etwas Neues im hessisch-fränkischen Gebiet zum ersten Male auftritt, ist für eine lange Zukunft Vorbild geworden. Es hat zunächst in Alsfeld und in seiner näheren und weiteren Umgebung Anwendung gefunden an Schlössern und Rathäusern, aber auch an einfachen Gebäuden, wo es mit dem bisherigen Gruppenfachwerk in Wettbewerb trat und oft auch an ein und demselben Gebäude mit ihm sich abfinden musste. Aus ihm ging das Fachwerk des 19. Jahrhunderts hervor.
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
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Erstveröffentlichung:
Karl Brodhäcker, Godt bewahre deinen Eingank und Ausgank. Ein Besuch im Alsfelder Rathaus, in: Heimat im Bild, 1972, Nr. 30, S. 1-4.
[05.03.2024]