Von Georg Kratz, Bürgermeister a.D., Wiesbaden (1985)
I.
In meiner Vorstellungsrede als Bewerber für das Amt des Bürgermeisters von Alsfeld im Januar 1954 hatte ich unter anderem zwei besondere Schwerpunkte meiner zukünftigen Arbeit herausgestellt:
1. Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge sowie in einem gewissen Umfange der Ausgebombten – überwiegend aus dem Rhein-Main-Gebiet – in die Bürgerschaft unserer Stadt. Bei diesem Personenkreis ging es um 3000 bis 4000 Einwohner gegenüber 5800 Bürgern zu Beginn des Krieges in 1939. Für diese zukünftigen Neubürger mussten zumindest 1000 weitere Wohnungen entstehen sowie zugleich die städtischen Einrichtungen wie Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Kläranlage, Schulen, Kindergärten und Sonstiges neu gebaut oder angemessen erweitert werden. Das setzte auch einen Generalbebauungsplan voraus. Letzterer wurde bereits 1955 von Regierungspräsident Arnoul – meinem früheren Chef in Darmstadt – im Rathaus genehmigt übergeben, wobei sich der Regierungspräsident als 1. Persönlichkeit in das Goldene Buch eintrug.
2. Zugleich war alles zu unternehmen, damit für diese zusätzlichen Einwohner Arbeitsmöglichkeiten entstehen, um die Arbeitslosenquote von 20 Prozent auf ein erträgliches Maß herabzudrücken.
II.
1959, fünf Jahre nach meinem Dienstantritt, veranstalteten die Städtischen Gremien auf meinen Vorschlag hin eine Aufbaufeier, um sowohl das Erreichte zu verdeutlichen, zugleich aber auch den Rahmen für die weiteren Auf- und Ausbauziele abzustecken.
Zu dieser, mit dem Prämienmarkt verbundenen Aufbaufeier und der bevorstehenden Garnisonierung des Bundesgrenzschutzes, gab der Magistrat eine heute noch lesenswerte Festschrift heraus. Diese Feier sollte zugleich die alteingesessenen und die Neubürger vereinen.
Neue Stadtviertel mit 1000 Wohnungen, eine neue Wasserversorgungsanlage mit zusätzlichen Brunnen, vergrößerten Fernleitungen von Ober-Breidenbach und Liederbach im Freilauf und ein neuer Hochbehälter auf dem Galgenköppel waren ebenso entstanden wie die fünfte nach dem Krieg in Hessen errichtete neu entstandene, vollbiologische Kläranlage, neue und erweiterte Schulen, Sporthalle mit Sportplatz; der Fremdenverkehr besonders gefördert. Es gelang aufgrund einer Denkschrift des Verfassers, Alsfeld in das neu geschaffene Zentral-Orte-Programm der Bundesrepublik zusammen mit 15 anderen Städten zu bekommen. Die Hessische Landesregierung hat dies in der Festschrift ebenso gewürdigt wie Regierungspräsident Arnoul, aber auch Ministerpräsident Dr. Zinn bei einer Kreisbereisung.
Nach der Aufbaufeier reiften auch die ersten Überlegungen zur Sanierung der Altstadt: Der Schwälmer Brunnen gab einen ersten Auftakt. Bei allem hatten wir das besondere Wohlwollen der Minister Schneider, Schütte, Franke und Hacker.
III.
Die unter I. und II. gemachten Darlegungen spielten auch bei den Überlegungen, welche Stadt wohl den 1. Hessentag durchfühlen solle und könne, eine Rolle. Dazu kam folgendes:
Die Mitglieder des Gebietsausschusses Oberhessen im Landesverkehrsverband Hessen wählten wegen der großen Anstrengungen von Alsfeld zur Verstärkung des Fremdenverkehrs den Verfasser zu ihrem Vorsitzenden und damit zugleich in den Vorstand des Landesverkehrsverbandes Hessen. So entstanden freundschaftliche Verbindungen zu Dr. Heinz Kreutzmann, Pressereferent und Fremdenverkehrsreferent im Wirtschaftsministerium, dann Zonenrandkommissar in der Staatskanzlei, Bundestagsabgeordneter und zuletzt Parlamentarischer Staatssekretär; er wohnt seit Jahren in Borken.
Von ihm und einigen anderen Bekannten und Freunden hörte ich, dass der Ministerpräsident und die Landesregierung – auch nach Überlegungen im Nordhessischen Bereich – eine jährliche Veranstaltung als Hessentag planten, um die Verbindungen zwischen allen Hessen, Alteingesessenen und Neubürgern. zu verstärken und zu vertiefen und damit das Gemeinschaftsgefühl zu vergrößern. Ich hörte weiter, bei den Vorgesprächen und Überlegungen seien mehrere Städte genannt worden, die von ihrer Größe, ihrer Lage und von weiteren Gegebenheiten her, aber auch mit einer gut organisierten Verwaltung und Leitung, die Gewissheit für ein gutes Gelingen einer solchen größeren Veranstaltung des Landes biete. Dabei habe sich Alsfeld mehr und mehr herauskristallisiert, zumal es bei größeren Veranstaltungen 1959 und 1960 gezeigt habe, dass man größere Feste gut durchführen könne. Inzwischen wurde dann noch bekannt, wenn Alsfeld mitziehe, liefe es mit Sicherheit auf uns hinaus.
Hinter den Kulissen habe ich dann mit mehreren Persönlichkeiten gesprochen und vorbehaltlich der Zustimmung der städtischen Gremien – um die ich mich mit Nachdruck bemühen werde – Bereitschaft signalisiert.
Der persönliche Referent des Ministerpräsidenten, Oberregierungsrat Bernd Schneider, später Oberbürgermeister von Gießen, rief mich dann an und erklärte mir, Ministerpräsident und Landesregierung hätten die Durchführung eines Hessentages als jährliche Veranstaltung des Landes beschlossen; der erste Hessentag solle in Alsfeld stattfinden. Obwohl ich mit verschiedenen Gründen auch Risiken sah, andererseits die Absichten des Hessentages auch meinen Vorstellungen im vollen Umfange entsprachen und ich zugleich schon immer bereit war, das „Neue frisch zu wagen“, schlug ich Magistrat und Stadtverordnetenversammlung vor, die Zustimmung zur Durchführung des 1. Hessentages in Alsfeld zu geben, was dann erfolgte.
Alle Vorbereitungen liefen schnellstens auf Hochtouren, sowohl bei der Landesregierung wie bei der Stadt. Ein Gespräch nach dem anderen jagte sich, Kooperation funktionierte wie am Schnürchen. Hauptgesprächspartner waren Oberregierungsrat Schneider von der Staatskanzlei und Diplomlandwirt Merforth vom Ministerium für Landwirtschaft und Forsten in Wiesbaden, später Ministerialdirigent in Niedersachsen. Dazu kamen die Pressereferenten und sonstige Mitarbeiter der verschiedensten Ministerien. Wir setzten alles daran, dass dieser 1. Hessentag von Erfolg gekrönt und so zu einer Dauereinrichtung wurde.
IV.
„Wir laden ein zum Hessentag“, so stand auf der Umschlagseite des Prospektes der Landesregierung und gleiches auf den Einladungen der Stadt, die zugleich noch zum Prämienmarkt einlud.
Ziel des Hessentages, den das Land zusammen mit dem Kulturwerk Nordhessen trug und mit der Stadt Alsfeld durchführte, war es:
1. Der Hessentag soll alle Hessen zwischen Weser und Neckar, Rhein und Werra zusammenführen.
2. Er soll den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen zeigen, dass wir alle in einer Gemeinschaft leben, die Platz für jeden hat.
3. Er soll unserer Jugend zeigen, wie vielfältig das Leben in unserem Lande ist und sie anregen, die Heimat kennenzulernen.
4. Er soll ein Volksfest werden mit besinnlichen Stunden, mit Tanz, Spiel und Sport.
Der 1. Hessentag war ein voller Erfolg für die Veranstalter: die Landesregierung mit Ministerpräsident Dr. Zinn und das Kulturwerk Nordhessen und nicht zuletzt für die Stadt Alsfeld, ihre Gremien sowie den Bürgermeister und seine engagierten Mitarbeiter, verstärkt durch den Bundesgrenzschutz und viele Vereine mit freiwilligen Helfern sowie die Bürgerschaft. Das gleiche galt für die Beauftragten der Landesregierung aus der Staatskanzlei und die verschiedenen Ministerien.
Viele Freundschaften sind seinerzeit geschlossen worden, nicht zuletzt auch zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Verfasser und vielen beteiligten Persönlichkeiten der Landesregierung, die unserer alten Hessenstadt Alsfeld zugute kamen.
Ministerpräsident Georg August Zinn hat in einem Bildband für den Verfasser folgende persönliche Widmung eingetragen:
„In Alsfeld hat der erste Hessentag im Jahre 1961 stattgefunden. Ich hoffe, dass damit in Ihrer alten schönen Stadt eine neue hessische Tradition begonnen hat. Sie, Herr Bürgermeister Kratz, haben in diesen Tagen mit Ihren Mitarbeitern eine große organisatorische Aufgabe zur höchsten Zufriedenheit aller Teilnehmer gelöst. Dafür darf ich Ihnen meine besondere Anerkennung und den Dank der Hessischen Landesregierung aussprechen. Dr. Georg August
Zinn, Hessischer Ministerpräsident.“
Bei der Verleihung der Freiherr-vom-Stein-Plakette des Landes Hessen im Dezember 1984 an den Verfasser wurde neben den besonderen kommunalpolitischen Leistungen auch die für das gute Gelingen des 1. Hessentages 1961 in Alsfeld herausgestellt. Denn damals wurde in der Tat die Tradition begründet, die heute nicht mehr wegzudenken ist. Das zeigt der 25. Hessentag in unserer alten, traditionsreichen, liebenswerten Stadt und ihrer Bürgerschaft, der ich mich nach wie vor eng verbunden fühle.
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
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Erstveröffentlichung:
Georg Kratz, Der 1. Hessentag 1961 in Alsfeld, in: Sonderbeilage der Oberhessischen Zeitung zum 25. Hessentag in Alsfeld, 25.05.1985.
[Stand: 07.04.2024]