Abtransportiert aus Angenrod, ermordet im KZ
Auf den Tag vor 80 Jahren wurden die letzten acht jüdischen Angenröder deportiert. Gedenken im Haus Speier

Von Dr. Ingfried Stahl, Alsfeld-Angenrod (07.09.2022)

Exakt heute vor 80 Jahren nahm das traurigste Kapitel der seitherigen 750-jährigen Geschichte Angenrods seinen nicht mehr aufzuhaltenden Verlauf: die Deportation der letzten acht in ihrem Heimatort verbliebenen Angenröder israelitischer Religionszugehörigkeit, eingepfercht im Ghettohaus Speier, der jetzigen Gedenkstätte Haus Speier.

Die Ereignisse, die sich an diesem 7. September 1942 vor dem Abtransport von Angenrods letzten Israeliten, allesamt dann Opfer der Shoah, abspielten, wurden insbesondere auf Basis der übereinstimmenden Tradierungen von Angenrods Zeit- und Augenzeugen wie folgt geschildert und in diversen Publikationen von Lokalhistoriker Ingfried Stahl der Nachwelt überliefert:

Liselotte Speier

„Die Deportation der letzten acht Angenröder Israeliten in die Vernichtungslager im Osten erfolgte am Montagvormittag, 07.09.1942. Da fuhr ein Opel-Blitz mit zwei unbekannten Uniformierten vor dem Haus Speier vor und holte unter den Augen von auch Angenröder Schulkindern und Frauen der NS-Frauenschaft – insgesamt mehr als 30 Personen – die Familie Speier (Leopold und Ehefrau Johanna, geborene Weisenbach und die kleinen Geschwister Alfred und Liselotte Speier), Angenrods ‚Bannes‘ Sally Wertheim (‚Herze Sally‘) und dessen Frau Mina, geborene Loewenthal, Frieda Abt – Gattin des bereits in Angenrod verstorbenen ‚Benschers‘ Sally Abt – und Berta Oppenheimer (‚Bules Bertache‘) ab.

Sally Wertheim – Angenrods
letzter israelitischer Gemeindevorsteher

Pro Person durften nur 50 Pfund Gepäck mitgenommen werden. Es waren die letzten in ihrem Heimatort verbliebenen Angenröder israelitischer Religionszugehörigkeit, die sich nicht mehr rechtzeitig vor dem Nazi-Terror in Sicherheit bringen konnten. Alle acht Angenröder wurden ermordet. Alfred und Liselotte Speier waren erst 15 und neun Jahre alt, als in den Gaskammern der Todesfabrik Auschwitz Zyklon B die Menschen erstickte.

Mathilde Wertheim Stein, geboren 1915 und als Tochter des Angenröders Vogel Wertheim in Lauterbach aufgewachsen, dann 1937 nach Atlanta (USA) emigriert, berichtet hierzu, Sally Wertheim und dessen Frau Mina hätten den Angenröder Mitbürgern beim Abtransport noch traurig zugewinkt, nicht verstehend, dass so etwas Unmenschliches passieren könne.

Den weiteren Verlauf der gewaltsamen Deportationen im September 1942 recherchierte und beschreibt ausführlich Monica Kingreen (1951 bis 2017). So wurden wohl auch die aus Angenrod verschleppten acht Israeliten zunächst in das Sammellager in Gießen, dem zur Unterbringung der Juden hergerichteten Erdgeschoss und der Turnhalle der Goetheschule, eingewiesen. Später wurden sie dann am 17. September 1942 in ein weiteres Sammellager in Darmstadt gebracht.

Fünf der acht Angenröder Israeliten wurden schließlich mit Transport vom 27. September 1942 vom Güterbahnhof in Darmstadt aus – von den insgesamt 1.288 Personen waren 264 aus Oberhessen – in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Theresienstadt war eine als Ghetto umfunktionierte Garnisonsstadt nördlich von Prag mit zu dieser Zeit etwa 53.000 verschleppten jüdischen Tschechen und Deutschen, ein sogenanntes Altersghetto, das vor allem aber auch Durchgangslager für weitere Transporte in die Vernichtungslager im Osten wie Auschwitz und Treblinka war.

Nicht nach Theresienstadt, sondern am 30. September 1924 nach Polen deportiert wurden drei der acht Angenröder Israeliten: Berta Oppenheimer, ledig, geboren am 4. Oktober 1888 in Angenrod. Sally Wertheim, geboren am 30. Januar 1888 ebenfalls in Angenrod sowie dessen Ehefrau Minna, geborene Löwenthal, geboren am 4. September 1892 in Hösbach (Bayern).

Offen bleibt die Frage, warum sich Sally Wertheim und seine Gattin – obwohl sich seine Kinder Walter, Karl-Heinz und Margot und auch sein Vater, der hochbetagte Herz Wertheim, noch ins Ausland retten konnten – nicht selbst in Sicherheit brachten. An finanziellen Mitteln dürfte es nicht gelegen haben. Angenröder Zeitzeugen sagen hierzu, Sally sei herzkrank gewesen und habe kein Visum für die USA erhalten. Dies trifft nach den ausführlichen archivischen Recherchen des Autors insbesondere im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden auch zu. Der letzte jüdische Gemeindevorsteher hatte sogar geplant, mit Schiff über Tokio in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Ein Vorhaben, das letztlich scheiterte.

Eine andere Aussage aus dem direkten Umfeld des letzten Angenröder „Bannes“ des israelitischen Ortsvorstehers, lautet demgegenüber: Sally Wertheim, der auch im ersten Weltkrieg für sein Deutsches Vaterland kämpfte und eigentlich – so ist mehrfach zu hören – ein überaus offener und über den Tellerrand hinausblickender Angenröder Israelit gewesen sei, habe es einfach nicht für möglich gehalten, dass es in Deutschland für die jüdische Bevölkerung um Leben und Tod gehen würde. Sally habe sogar geplant, nach Ende des Kriegs in einer Angenröder Mühle Arbeit aufzunehmen.

Doch wiederum ist es die verwandtschaftliche Nähe von Cousine Mathilda W. Stein, die in ihrem Buch „The way it was“ konkret bestätigt, was auch die meisten Angenröder Zeitzeugen berichten: Sally Wertheim wurde bereits 1935 wegen offener Artikulation gegenüber den Nazis ins Gefängnis nach Gießen verbracht. Wie Sallys Tochter Margot später bezeugte, wurden Sally Wertheim dort sogar Handfesseln angelegt.

Während der Verhandlung in Gießen wurde behauptet, dass Sally Wertheims angeblicher Verstoß aus einem Bus am Sabbat durchgesickert sei. Sally wurde daraufhin wieder freigelassen, da wohlbekannt war, dass Juden an einem Sabbat nicht reisen.

In Angenrod erinnert das Haus Leuseler Straße 3, das ehemalige Haus Speier und jetzt Gedenkstätte, in dem die letzten acht Angenröder Israeliten monatelang vor ihrer Deportation ein Ghettodasein verbringen mussten, als Mahnstätte an dieses dunkle Kapitel auch Angenrods.

Fotos / Quellen:

Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD); Yad Vashem; Repros: Ingfried Stahl

Erstveröffentlichung:

Dr. Ingfried Stahl, Abtransportiert aus Angenrod, ermordet im KZ. Auf den Tag vor 80 Jahren wurden die letzten acht jüdischen Angenröder deportiert. Gedenken im Haus Speier, in: Oberhessische Zeitung, 07.09.2022.

[Stand: 09.07.2024]