Von Michael Maynard, London (2001)
Nach dem Kriege wurde ich aufgefordert aufzuschreiben, was ich im Zusammenhang mit der Übernahme der Synagoge weiß. Dies wurde benötigt für die Rückerstattung von Werten bzw. der Entschädigung an die JRSO (Jewish Restitution Successor Organisation).
Im Folgenden gebe ich die freie Übersetzung des Hauptteiles meiner Aussage aus dem Englischen wieder:
„Mein Vater, Philipp Moses, war 1938 der Vorstand der Jüdischen Gemeinde. Ich traf ihn nach dem 9. November 1938 im KZ Buchenwald, wo wir unabhängig voneinander eingeliefert worden waren. Er berichtete mir damals, dass man in der Nacht in die Synagoge eingedrungen sei und versucht habe, sie anzuzünden. Eine unbekannte Person hätte die Feuerwehr alarmiert, und der Brand wurde gelöscht. Es wurde mir später bekannt, dass dies Herr T., ein SA-Führer, getan hatte. Er wurde als Judenfreund von anderen Nazis gerügt. Der wahre Grund für sein Tun wird weiter unten erklärt.
Nach der Entlassung meines Vaters aus dem KZ hatte ich oft Gelegenheit, das Gebäude mit ihm zu besuchen. Der Zustand des Gebäudes von außen war, von den zerbrochenen Fensterscheiben abgesehen, unverändert. Da die Fenster in Blei gefasst waren, war hier der Schaden nicht sehr groß.
Im Inneren war alles völlig verwüstet. Die Bänke waren umgestürzt und zerschlagen. Zubehör war abgerissen, Gebetbücher zerrissen und herumgeworfen. Man hatte versucht den Bodenbelag zum Feuer machen zu benutzen, Bänke waren angekohlt. Da diese aus Eiche hergestellt waren, kamen sie kaum zum Brennen, bis die Feuerwehr kam. Der ganze Raum, die Gebetbücher waren noch vier Wochen nach dem Einbruch durchnässt. Alles Glas war zerschlagen und alle inneren Türen zersplittert.
Die Einrichtung der Wohnung im 1. Stock war völlig zerstört. Hier hatte Herr Döllefeld, der Synagogendiener, mit seiner tauben Schwester zeitweise gewohnt. Etwa eine Woche nach der Entlassung meines Vaters kam Herr T. zu uns und wollte meinen Vater sprechen.
Die Unterhaltung verlief etwa in folgenden Bahnen. Herr T. gab seinem Erstaunen Ausdruck, dass mein Vater keinen Versuch gemacht hätte, die Synagoge der Sparkasse anzubieten. Er deutete dann an, dass er nicht wieder dasselbe tun könne wie am 9. November, d.h. die Feuerwehr zu benachrichtigen, falls die Synagoge nicht bald der Sparkasse überschrieben würde. Die Jüdische Gemeinde müsste dann die 3.000 RM für die Hypothek, die auf dem Gebäude stand, sofort aufbringen. Er wäre scharf kritisiert worden, weil er die Feuerwehr benachrichtigt habe. Dies habe er nur getan, um einen Wertgegenstand für die Bank zu erhalten. Er könne sich nicht vorstellen, dass nach diesem Geschehen noch ein Jude in Alsfeld bleiben würde. Er beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass man ihm „in die Ohren geflüstert” hätte, falls die Synagoge noch weiter in jüdischen Händen bliebe, würde in der Silvesternacht ein „großes Feuerwerk“ stattfinden.
Mein Vater fuhr zum jüdischen Landesverband in Mainz und trug dort die Erpressung vor. Sie sahen natürlich keinen Ausweg und gestatteten meinem Vater, gegen die Löschung der Hypothek in Höhe von 3.000 RM der Sparkasse die Synagoge zu übertragen.
Damals war mir nicht bekannt, dass anständige Menschen, die Kultgegenstände aus der Synagoge gerettet hatten und im Museum versteckt hatten.
Erstveröffentlichung:
Maynard, Michael: Die Alsfelder Synagoge am 9. November 1938 und danach, hrsg. vom Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Alsfeld“.
Vertiefungsliteratur:
Dittmar, Heinrich / Jäkel, Herbert: Geschichte der Juden in Alsfeld, Alsfeld 1988, S. 123-124.
Kropat, Wolf-Arno: Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation, Wiesbaden 1988.
Kropat, Wolf-Arno: Reichskristallnacht. Der Judenpogrom vom 07.11.1938 bis 10.11.1938 – Urheber, Täter, Hintergründe, Wiesbaden 1997.
Mühlhausen, Walter: Als die Synagogen brannten. Die November-Pogrome 1938 in Hessen, in: Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Blickpunkt Hessen, Nr. 15/2013.
Oberhessische Zeitung: 48 ermordete Alsfelder Juden. Gedenkfeier anlässlich der „Reichspogromnacht“ am 09.11.1938. Erinnerung an jüdische NS-Opfer, in: Oberhessische Zeitung, 10.11.2021.
[Stand: 01.01.2024]