Richard Hoelscher (1867-1943)

Von Karl Brodhäcker, Alsfeld (2012)

Es muss 1927 oder 1928 gewesen sein, ich war Zweit-, beziehungsweise Drittklässer der Alsfelder Volksschule, als ich an einem Vormittag im oberen Gang des Schulgebäudes in der Volkmarstraße einen Maler mit seiner Staffelei an einem Fenster mit Blick auf die Altstadt stehen sah. Neugierig pirschte ich mich heran und staunte, wie der Künstler Pinsel und Farbe handhabte. Ich war so fasziniert, dass ich das Klingelzeichen zum Pausenende ignorierte und Schulstunde wie Lehrer vergaß. Interessiert sah ich zu, wie Dach nach Dach und allmählich ein Stück Alt-Alsfeld auf der Leinwand in Farbe entstand. Erst als der Maler, der mich bis dahin übersehen hatte, nach einiger Zeit freundlich fragte: „Na, junger Mann, musst du nicht zurück in dein Klassenzimmer?“, schreckte ich auf, nickte mit dem Kopf und rannte davon.

Professor Richard Hölscher
Foto © Karl Brodhäcker

Das war meine erste Begegnung mit dem Alsfelder Kunstmaler Richard Hölscher, die sich mir fest eingeprägt hat. Eine zweite folgte 1936, die mir ebenfalls unvergessen bleibt. Richard Hölscher hatte damals, wenn er sich in Alsfeld aufhielt, ein Zimmer im Haus des Fabrikanten Grünewald in der Marburger Straße – Ecke Alicestraße. Wir wohnten schräg gegenüber in der Marburger Straße. Inzwischen war ich 18 Jahre alt und wusste, dass Richard Hölscher ein bekannter Kunstmaler war. Ich nahm all meinen Mut zusammen, ging hinüber zum Haus Grünewald und klopfte zaghaft an des Künstlers Zimmertür. „Ach, der Nachbarsjunge“, sagte er freundlich und bat mich ins Zimmer. Ich hatte ein Gemälde dabei, ein Portrait meiner Mutter, das ein Verwandter, Heinrich Falk, 1918 von ihr gemalt hatte. Über das Bild entwickelte sich ein längeres Gespräch mit dem Professor, auch über den Maler, den Richard Hölscher kannte.

Bei späteren Alsfeld-Besuchen des Künstlers kam es nur zu kurzen Begegnungen, die sich allerdings verloren, als ich 1939 zum Arbeitsdienst einrückte und später im Krieg als Soldat nur selten Heimaturlaub hatte.

In einem Gespräch über Alsfelder Maler, das in kleinem Kreis aufkam, fiel der Name Richard Hölscher wieder einmal, und ich stellte fest, dass kaum einer der jüngeren Anwesenden wusste, wer der Maler war und welchen Rang er einst innehatte. Aber das ist letzten Endes nicht verwunderlich, sondern der Lauf der Dinge. Neue Namen tauchen (nicht nur in der Kunstszene) auf, alte werden vergessen. Damit es Professor Hölscher nicht ergeht wie seinen Gemälden im Museumsmagazinen, wo sie nur noch selten vom Staub befreit und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, habe ich in unserem Freundeskreis noch einmal an den Alsfelder Künstler erinnert:

Blick auf Alt-Alsfeld. Radierung von 1926
Privatbesitz Karl Brodhäcker

Geboren wurde Richard Hölscher in Alsfeld am 5. Februar 1867 als ältester Sohn des Fotografen Heinrich Hölscher und seiner Ehefrau Dorothea Auguste Ehrenklau. Überliefert ist, dass bereits der sechsjährige Richard lieber auf seiner Schiefertafel zeichnete als dass er darauf schrieb. Auch später waren seine Lieblingsbeschäftigungen Malen und Zeichnen, Begabungen, die von einigen seiner Alsfelder Lehrern der Realschule gefördert wurden. Am liebsten hätte Richard nach Schulabschluss die Akademie für bildende Künste in Kassel besucht, um seine Begabung zum Beruf zu machen. Dem stand jedoch die Absicht des Vaters entgegen, dem Sohn einst das Fotografengeschäft zu übergeben. Darum wollte er, dass Richard eine Ausbildung im Fotografieren, Retuschieren und in der Lithographie erhalte, um ein tüchtiger Fotograf zu werden. Schließlich aber gab der Vater dem Drängen seines Erstgeborenen nach, sodass Richard ab Herbst 1883 Schüler der Kasseler Akademie wurde.

Mutter mit Kind (Bleistiftzeichnung)
(Aus Zeitschrift „Hessen-Heimat“, 1917)

In den Ferien war er immer wieder mit Skizzenblock und Staffelei in der Heimatstadt unterwegs, um ihre romantischen Gassen, Fachwerkgebäude, Winkel sowie Trachten tragende Besucher aus dem nahen Schwalmtal und dem Katzenberg mit Bleistift oder in Farbe auf Papier und Leinwand zu bringen. Von Alsfeld aus unternahm er auch Ausflüge ins Schwalmtal, zum Herzberg, ins Schlitzerland, in den Katzenberg und in andere Gegenden des Hessenlandes, um Feldstudien zu betreiben.

Seiner Kasseler Studienzeit war allerdings nach vier Jahren ein Ende gesetzt. Zum Weiterstudieren fehlte das Geld. So legte Hölscher im Jahr 1887 in Berlin die Prüfung für Zeichenlehrer an höheren Schulen ab.

Katzenberger Schulkinder. Ölgemälde (Regionalmuseum Alsfeld)
Foto © Karl Brodhäcker

Nach Ableistung seiner einjährigen Militärpflicht erhielt Richard Hölscher zunächst eine Stelle als Volontär für den Zeichenunterricht an der Realschule seiner Heimatstadt. Doch bereits 1889 wurde er in den Staatsdienst übernommen und Zeichenlehrer an der Realschule und der Kunstgewerbeschule in Offenbach, von wo er nach einjähriger Tätigkeit im Herbst 1890 an das neue Gymnasium in Darmstadt versetzt wurde.

Das der Kunst aufgeschlossene Darmstadt hielt viele Anregungen für den begabten Künstler bereit. Der Beruf, neue Freunde sowie die Darmstädter Kunstszene gaben ihm Auftrieb. 1892 konnten die Darmstädter sowie andere an der Malerei Interessierte Richard Hölschers Bilder in seiner ersten Ausstellung bewundern. Organisiert wurde sie vom Darmstädter Kunstverein. Der finanzielle Erfolg blieb nicht aus. Eine besondere Leidenschaft des Künstlers galt dem Reisen, um Kulturen und Menschen auch in fremden Ländern kennen zu lernen. Natürlich ging das Malerherz bei all den vielen neuen Eindrücken und Motiven, die sich auf diesen Fahrten boten, weit auf. 1892 und in den folgenden Jahren waren Ziele seiner Studienreisen unter anderem Florenz, Genau, Pisa, Venedig, Rom, die Albaner Berge, die Campagne, aber auch nähere, der Kunst aufgeschlossene Städte wie München, Nürnberg und Wien. Zwischendurch verbrachte er immer wieder Tage oder Wochen in Alsfeld.

Gemäldegalerien, Sammler und der hessische Staat wurden auf den Künstler aufmerksam, stellten seine Bilder aus, kauften Gemälde oder beauftragten ihn mit der künstlerischen Ausgestaltung von staatlichen Gebäuden. So bekam er zum Beispiel 1908 den Auftrag, ein Portrait des Großherzogs Ernst Ludwig für den Mainzer Schwurgerichtssaal zu malen, 1919 entstanden acht Wandbilder für das Treppenhaus des Realgymnasiums Darmstadt, 1922 folgte das Wandbild „Tobias und der Engel“ für das St. Josephshaus in Heidelberg.

Eine besondere Arbeit war das Monumentalwerk für die Augustinerschule in Friedberg: ein 22 Darstellungen umfassender Bildzyklus aus der Edda, deren letztes Motiv erst 1936 angebracht wurde. Für den Sitzungssaal des damaligen Landesamtes für das Bildungswesen malte Richard Hölscher 1926 das an Figuren reiche Bild „Hessenkinder auf dem Schulweg“.

Viele Aufträge und Ausstellungen machten Richard Hölscher immer bekannter. Hatte er am 11.05.1898 die Anstellung als Oberlehrer erhalten, der am 27.04.1907 die Ernennung zum Professor folgte, so wurde ihm der Schuldienst nun allmählich zum Klotz am Bein, der sein freies künstlerisches Schaffen behinderte. Auf sein Ersuchen wurde er deshalb 1911 für drei Jahre vom Schuldienst befreit, um sich ganz seiner künstlerischen Arbeit widmen zu können. Die meiste Zeit davon verbrachte er außer in Darmstadt, das ihm zur zweiten Heimat geworden war, in Alsfeld. Aber auch mit Reisen nach London, Paris und Holland. Alsfeld war gewissermaßen der ruhende Pol in seinem künstlerischen Schaffen, hier entstanden neben Zeichnungen, Radierungen und Buchillustrationen vor allem Entwürfe für figürliche, großformatige Wandgemälde.

Seine künstlerische Betätigung füllte den Vielbeschäftigten inzwischen so aus, dass er nach Ablauf der dreijährigen Auszeit vom Beruf 1914 ganz auf das Schulamt verzichtete und sich ausschließlich der Malerei widmete, von der er inzwischen vortrefflich leben konnte.

Trotz seiner vielfältigen künstlerischen Verpflichtungen vergaß er das Heiraten nicht. Im Jahr 1919 schloss er mit der Darmstädterin Anna Ruths den Bund der Ehe.

Dass seine Arbeit auch von höchster Stelle Anerkennung fand, zeigt die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an ihn im Jahr 1928. Und zu seinem 50. Künstlerjubiläum war 1934 in der Darmstädter Kunsthalle am Rheintor eine Gesamtschau seines reichen künstlerischen Schaffens mit Werken aus privatem, öffentlichem und seinem eigenen Besitz zu sehen. Eine weitere Gesamtschau fand 1942 zu seinem 75. Geburtstag in Darmstadt statt. Nach einem erfüllten Leben verstarb Richard Hölscher in Darmstadt am 13.03.1943.

Ehrungen erfolgten auch noch nach seinem Tod. So wurde, um nur eine zu nennen, 1978 in Darmstadt-Arheiligen eine Straße nach ihm benannt.

Frühling an der Schwalm, 1930 (Ölgemälde)
Oberhessisches Museum

Richard Hölschers Kunst hat die Kriege 1914-1918 und 1939-1945 trotz aller in den Jahrzehnten aufgekommenen Kunstrichtungen unbeschadet überstanden. Natürlich legen in mancher Hinsicht Fachleute heute andere Maßstäbe an die Kunstwerke früherer Maler an. Das wurde deutlich in der Einführungsansprache der Hölscher-Ausstellung 1967 in Alsfeld, die Kunstkenner Oberbaurat Ernst-Otto Hofmann, Alsfeld, hielt. Er sagte unter anderem:

„Bei der Würdigung seiner (Hölschers) Werke werden wir infolge des zeitlichen Abstands heute sicherlich etwas Kritischer urteilen können und müssen, als man es vor 30 Jahren getan hat. Sicherlich ist Richard Hölscher nicht unter die Maler einzuordnen, die große Kunstgeschichte gemacht haben. Trotz mehrerer Studienreisen in das Ausland, auch nach Paris, bemerken wir in seinem Schaffen keinerlei Hinweise, dass er sich mit den neuen Kunstströmungen seiner Zeit, etwa dem Impressionismus, auseinandergesetzt hat. Man kann sich vielmehr vorstellen, dass ihn alle avantgardistischen Kunstrichtungen eher erschreckt als angeregt haben. Sie entsprachen nicht seinem Wesen. Seine Kunst bewegte sich niemals außerhalb seiner naturgebundenen Welt, er bleibt immer der Natur verhaftet, auch bei seinen wenigen Arbeiten auf dem Gebiet der monumentalen Wandmalerei. Wenn man schon eine Parallele ziehen will, kann man an Hans Thoma denken. An die Malerkolonie Worpswede, an die Schwälmer Maler in Willingshausen oder auch an Ernst Eimer aus Groß-Eichen, der wiederum von Thoma beeinflusst war […]. Aber auch eine solche Kunst kann groß und bedeutend sein, wie überhaupt die Bewertung eines Kunstwerkes niemals an der Darstellungsform allein gemessen werden kann […]. Richard Hölscher war zweifellos ein Zeichner von großen Gnaden […]. Von Jugend an hatte er auch eine starke Begabung für das Portrait […]. Richard Hölscher war ein begnadetes Talent, ein Künstler, der innerhalb seiner Welt Hervorragendes geleistet hat und daher sicherlich verdient, nicht vergessen zu werden!“

Frau Hölscher (Regionalmuseum Alsfeld)
Foto © Karl Brodhäcker

Der Kunstmaler Professor Richard Hölscher, der in seiner Geburtsstadt immer wieder Einkehr hielt und hier Kraft sowie Ideen für neue Werke fand, hatte neben Verwandten viele Freunde in der Stadt. Auch Ausstellungen seiner Werke erinnerten in Alsfeld an ihn, so die große im Mai 1993 zu seinem 50. Todestag im Regionalmuseum.

Durch Kauf, Schenkungen und Leihgaben besitzt das Alsfelder Regionalmuseum inzwischen eine beachtliche Anzahl von Gemälden, Zeichnungen, Radierungen etc. Richard Hölschers, die leider der Öffentlichkeit nicht ständig zugänglich gemacht werden können. Sie werden, wie die Namensgebung einer Straße im Wohngebiet um die Ernst-Arnold-Straße, dem „Richard-Hölscher-Weg“, mit dazu beitragen, dass sein Andenken in Alsfeld nicht gänzlich in Vergessenheit gerät.

Erstveröffentlichung:

Karl Brodhäcker: Richard Hölscher, in: Alsfelder Kunstmaler des 20. Jahrhunderts. Oder: Was bleibt, sind Bilder und Erinnerungen, in: Karl Brodhäcker, Der Mord am Türmer. Erinnerungen an Alsfelder Geschehnisse und Personen, 2012, S. 206-216.

Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
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[Stand: 12.06.2024]