(In lateinischer Sprache verfasst von Justus Vietor)
Übersetzung: Stefan Wintersteiner (1988)
Das nachfolgende Trauergedicht oder Epicedion ist die früheste und wichtigste Quelle für das Leben und Wirken des Alsfelder Reformators Tilemann Schnabel. Verfasst wurde es von Justus Vietor, der als unmittelbarer Nachfolger Schnabels die Pfarrstelle von 1559 bis 1575 innehatte.
Fritz Herrmann gibt in seinem nachfolgend noch öfter zitierten Büchlein „D. Tilemann Schnabel – Der Reformator der Stadt Alsfeld“, Alsfeld 1905, die Ständische Landesbibliothek in Kassel als Standort des einzigen ihm bekannten Exemplars an. Der [folgende] lateinische Text der einzigen gedruckten Ausgabe stammt aus Johann Friedrich Conrad Retters „Hessische(n) Nachrichten“, Frankfurt/Main 1741, Nr. 3, S. 52-59, wobei nur die stellenweise irreführende Interpunktion leicht verändert wurde.
Herrmann druckt zwar einige Zeilen des Epicedions, auch in deutscher Übersetzung, ab, gibt aber nirgends eine Quelle dieser Übersetzung an. Ich vermute daher, dass die folgende die erste des gesamten Textes ist. Wenn nicht, ist dieses interessante Zeugnis der Stadtgeschichte auf jeden Fall leichter der Benutzung zugänglich als bisher. Dazu soll auch der knappe Kommentar beitragen.
Epicedion
für den ehrwürdigen Mann und Doktor der hochheiligen Theologie Tilemann Schnabel, Pastor und Superintendent von Alsfeld, verfasst von Justus Vietor aus Homberg, Diener der Alsfelder Kirche.
[Das Epicedion in der lateinischen Fassung – Download der pdf-Datei]
Wenn es Vergnügen bereitet, nicht selten Gemälde zu sehen, |
Deren Betrachten dabei jeglicher Güte entbehrt, |
Bilder cytherischer Mädchen mit schändlicher Zeichnung der Glieder, |
Ränke und Listen zudem des Dodonäischen Zeus – |
Warum will man dann nicht diese wenigen Verse durchforschen, |
Die dies Täflein erzählt hier auf dem Sarkophag? |
Stehe und lies! Denn reichen Ertrag wirst, Leser, du haben, |
Sei es, daß Heiteres du oder mehr Trauriges willst. |
Keinen sizilischen Streiter, kein‘ Bock aus karischen Landen, |
Sondern ein‘ Streiter für Christ‘ deckt und birgt dieser Stein: |
Tilemann Schnabel, ein prächtiger, glänzender Pfleger der Tugend, |
Kraftvoller Bürge zudem auch in der Frömmigkeit. |
Einen nur ähnlich wie ihn erblickt‘ unser Land niemals wieder, |
Von deinem Szepter regiert, großer Philipp, unser Land. |
Nun war Schnabel weithin bekannt durch den Titel des Doktors; |
Männern voll Gottesfurcht einzig verleiht ihm die Schrift, |
Stand zwar inmitten der Brüder, die einst zu Zeiten des Papstes |
Auf augustinische Art gaben Gelübde dir ab, |
Hatte zudem in Rom durchwandert die Tempel der Götter, |
Jeglichen heiligen Ort, den uns Italien weist. |
Trotzdem wagte er erstlich den Mönchen Abschied zu geben, |
Achtete nunmehr nicht unfrommen päpstlichen Trug, |
Seit die Lehre des höchsten Gottes dem finsteren Dunkel |
Eifrig entrissen ward, heiliger Luther, von dir. |
Scheute sich nicht, selbst vor dem wütenden Fürsten zu sagen: |
„Scheußliches Untier ist er, ist ein römischer Baal“, |
Hatte der Fürst doch damals noch nicht die Bücher gelesen, |
Darin die wahre Lehr‘, Glauben an Christus man findt‘, |
Fürchtete noch den Stuhl von Sankt Peter, die Fesseln, |
Fesseln des römischen Gott‘s, wenn auch nicht Anlaß zur Furcht. |
Ja, aus Liebe zum Wort verließ der Gerechte die Heimat, |
Fürchtete nicht um den Leib, achtet Gefahren für nichts. |
Sagte: „Es ist kein Exil, wenn einer aus Liebe zum Worte |
Weicht von dem heimischen Land, läßt sein Vaterland gar. |
Doch wenn er Christus verläßt und ihn sogar noch verleugnet, |
Trägt er höllische Last drückend auf seinem Genick. |
Denn verschlossen ist ihm die Türe zur ewigen Heimat; |
Satans, des scheußlichen, Reich öffnet sich düster vor ihm. |
Wer aber furchtlosen Mundes Christus preisend verkündigt, |
Sieht Gottes Zeichen erstaunt, hier, überall sieht er sie“. |
Ohne Ruhe und Rast nach Wittenberg eilte er gerade, |
Brüderlich dir genehm, heiliger Luther, ja dir. |
Durch dessen Rat in Leisnig der Führer der Herde geworden, |
Weidet in dürftiger Zeit er nun die Schafe des Herrn. |
Als aber Philipp, der Fürst aller Hessen, nur kurze Zeit später |
Riß alle Banden entzwei, Banden des römischen Papst‘s, |
Kam er, wie einst zu den Römern und Seinen zurückkehrte Tullius, |
Schnabel, als man ihn rief endlich nach Alsfeld zurück. |
Jubel und Beifall erhob die Gemeinde hierauf zum Himmel; |
Drei- und vierfacher Dank ward seiner Rückkehr zuteil. |
Du aber trauerst, du, Papst, und Klage entspringt deinem Herzen, |
Zeigst in vielfacher Art Zeichen der Trauer an dir. |
Als nämlich Schnabel begann mit seinem Schnabel zu stoßen, |
Stürzte dein ganzes Reich brechend zusammen danach. |
„Weicht sofort aus den Tempeln, ihr Bilder der Götzen“, so rief er, |
„Christus und nicht dem Gold schickt dieser Ort sich allein. |
Aberglaube, auch du, du Spieler mit Falschheit und Trugbild, |
Mit den Gebeten hinfort, fort mit Gehabe und Prunk! |
Nur der Glaube beseligt den Menschen, geschöpft aus dem Worte: |
Ehre wird dem Verdienst nunmehr nicht mehr zuteil“. |
Fest auf dem Redner die Augen, bewundert das Volk seine Worte, |
Worte von Himmelssitz, kommend aus himmlischem Haus. |
Wenig nur später besteigt der Erwählte die Säule der Ehre: |
Heiliger Dienst an Gott kennt keine höh‘re als sie. |
Würdig des höchsten Lobes stand er auf ihr; als Wächter |
Trieb er die Wachen noch an wachsam bei Tag wie bei Nacht. |
Denn sie bewundern den Reichtum, erstreben nur nichtige Ehre, |
Bieten gar frei ihren Hals nurmehr dem Vater des Trunks. |
In ihrem Leben für sich, nicht für Christus, fragen sie niemals, |
Wie‘s ihrer Herde wohl geht – steht oder fällt sie im Herrn? |
Niemals hat unser Schnabel freilich gewollt, diesen Lastern |
Auf gar schändliche Art unterzulegen den Hals. |
Nein, im ständigen Nutzen der siegreichen Waffen des Wortes |
Trug er im Kriegsdienst des Herrn heiligen Kampfpreis davon. |
Wende dich kurz, mein Leser, dem zu, wenn es Freude bereitet: |
Nach der Reihe erzählt‘s uns‘re Thaleia dir gleich. |
Welche Sorgen auch immer schleppte mit sich die Gemeinde – |
Frohgemut hielt er aus, stand an der Spitze der Schar. |
Sorgen jedoch, erzeugt durch das bange Erhoffen des Geldes, |
Dies wollte er nie dulden und fördern im Herz. |
Was er besaß, verteilt‘ er aus reichem Füllhorn den Armen; |
Niemals mit leerer Hand ließ er einen nur fort. |
Immer, wenn er geladen als Gast sich wandte zu Tische, |
Nahm er – glaube es mir – stets nur maßvollen Trunk. |
Trunkergebenen Brüdern – sie leerten die Becher zur Neige – |
Schärfte er ein, wie sehr Trunkenheit Schaden nur bringt |
Niemals vermochte der Hochmut ihn stolzgeschwollen zu machen; |
Blieb immer der, der er war, blieb der ergebene Hirt. |
Merkte er Wunden an seinen Schafen, legte er sorgend |
Seine Hände darauf, brachte so Heilung herbei. |
Ganz so wie er, so beugt sich die Mutter hinab zu den Sorgen, |
Die ihr Söhnchen da hat, immer um Hilfe bemüht. |
Müde fürwahr und bedrückt durch das Alter gab er dann endlich |
Seine Seele hinauf zu der Himmlischen Schar. |
Drei und ein halbes Jahrzehnt hatte wohl und recht er geweidet |
Gottes Herde als Hirt, hier, um Alsfeld herum. |
Um nun zu wissen, durch wen das göttliche Licht uns gegeben, |
Offengelegt aus der Nacht und dem Bösen zugleich, |
Und daß weiter den Heimgang des frommen Doktors beklage |
Alle kommende Zeit, Jahre, Jahrhunderte lang, |
Ließen mich Achtung und nicht zuletzt Verehrung und Liebe |
Singen dieses Gedicht, klagend mit Leierspiel. |
Dieser Hügel zudem, erbaut als geschichtetes Grabmal, |
Werde Palladius bekannt, wenn er das Täfelchen liest. |
Wer du, geneigter Leser, auch bist, und gelangst zu der Stätte: |
Bring‘ die Gebete mit mir, bring‘ diese Bitte vor Gott: |
Vater und Gott, du Bewohner der höchsten Tempel des Himmels. |
Der du gleichfalls beherrschst kleinere hier auf der Welt: |
Von uns zu dir entfliegt die Schar der frommen Doktoren, |
Und deine Herde sieht traurige Zeichen zum Teil. |
Daher bemächtigt sich großes Erstaunen unserer Sinne, |
Und wir fürchten von dir kommende Waffen des Zorns. |
Lasse nicht zu, daß erneut mit Kimmerischem Dunkel verhülle |
Deine Vorschrift und Lehr‘ Satan, der lügende Geist, |
Well dein Weinberg, gepflegt von dir mit gewaltiger Mühe |
So viele Tage lang, nichts außer Wildwuchs erbringt. |
Möge dein angenommener Sohn den Zorn dir nur mildern, |
Und zu dir im Vertrau‘n richten wir dieses Gebet: |
Laß uns mit neuer Einsicht die himmlische Weisung befolgen; |
Mach uns zum Teil deines Reichs, sei er so klein wie er mag. |
Erläuterungen (zur lateinischen Fassung und deutschen Übersetzung):
003 Cythera ist eine griechische Insel mit einem Kult der Aphrodite.
004 Dodona in Epirus an der griechischen Westküste war bekannt für sein Zeusorakel.
009 Sinn unklar; vielleicht ein antikes Sprichwort?
014 Landgraf Philipp der Großmütige (1504-1567).
015 Promotion am 11. September 1515 unter Luther (Fritz Herrmann, S. 13).
017 Schnabel gehörte vor seiner Konversion dem Augustinerkonvent in Alsfeld an.
023 „Tonans“ (der Donnerer) ist ein Beiname Jupiters. Wie oft in diesem Absatz verschwimmen christliche und heidnische Vorstellungen, wohl um den Papst als Nachfolger heidnischer Traditionen zu kennzeichnen.
025 f. Das Zusammentreffen beider wohl 1523, als Philipp in Romrod weilte. Schnabels Äußerung bzgl. des Papstes nur hier überliefert (Fritz Herrmann, S. 18).
043 f. Luther verschaffte ihm die Stelle eines Predigers in Leisnig an der Mulde. Von seinem dürftigen Lebensunterhalt berichtet ein Brief Luthers an Spalatin vom 24. November 1524 (Fritz Herrmann, S. 19).
045 ff. Nach seiner Konversion Mitte 1524 bemühte sich Philipp, die vorher verfolgten evangelischen Prediger wieder zurückzuholen. Schnabels Rückkehr fällt in die Zeit von 1525-1527 (Fritz Herrmann, S. 20).
047: Zu denken ist an den bekannten M. Tullius Cicero (107-43), der nach einjährigem Exil 57 nach Rom zurückkehren konnte.
055 ff. Knappe Darlegung der Kerngedanken der Reformation: Abschattung der Bilder, Solus-Christus-Prinzip. Abschaffung von Messe und Zeremonien. Rechtfertigung nur aus dem Glauben. Die Hochschätzung des Wortes war u. a. schon in Vers 31-35 angeklungen.
056 Wortspiel aus griechisch chrizo – ich salbe und chrysos – Gold.
063 Vielleicht ist an die Ernennung Schnabels zum Superintendenten 1531 gedacht, wodurch er die Aufsicht über ca. 70 Pfarreien von Ziegenhain bis Nidda erhielt (Fritz Herrmann, S. 27). Die folgenden Klagen, über unwürdige Pfarrer legen das nahe.
068 Wortspiel mit dem Beinamen des Bacchus: Pater Liber.
072 „suo“ bei Retter verbessert zu „sua“.
076 Thaleia ist eine der 9 Musen.
093 Schnabel starb am 27. September 1559 im Alter von über 80 Jahren. Das Datum überliefen die Gilsa-Leußler‘sche Chronik von Schnabels nicht mehr erhaltenem Grabstein.
095 Diese Zahl kann unmöglich stimmen, da Schnabel frühestens 1525 nach Alsfeld zurückkehrte. Eher stimmen die aus anderer Quelle überlieferten 33 Jahre seines Pfarramts.
100 Wesentlich sinnvoller als „queant“ ist hier „querantur“, was auch Eingang in die Übersetzung fand. Vielleicht liegt eine Verwechslung von „quire“ und „queri“ vor.
102 antik-literarische Konvention und nicht wörtlich zu nehmen.
104 Andrea Palladio (1508-1580), bedeutender Renaissancearchitekt und Zeitgenosse.
109 ff. Gemeint ist das allmähliche Wegsterben der führenden Köpfe der Reformation, wodurch auch ihr Bestand an sich gefährdet wird (siehe insbesondere V. 113 f.: Fritz Herrmann, S. 34).
113. Die Kimmerer sind in der griechischen Mythologie das Volk des äußersten Westens und damit der ewigen Dunkelheit.
Die Veröffentlichung der Übersetzung des Epicedions im Rahmen des Internetprojekts
www.Geschichtsforum-Alsfeld.de wurde von Stefan Wintersteiner genehmigt.
Erstveröffentlichung (der Übersetzung des gesamten Textes):
Stefan Wintersteiner, Übersetzer des Trauergedichts von Justus Vietor, Das Epicedion für Tilemann Schnabel, in: Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, 13. Reihe, Nr. 13, 1988, S. 250-255.
Literatur
[Stand: 31.03.2024]