Von Frieda Bücking, Alsfeld (1926)
Nie, deucht mir, ist ein Pfingsttag ins Land gekommen, wie heute. Es leuchtet über den Fluren, jubelt in den Lüften, duftet aus blühenden Wiesen. Bis zu den Höhen des Knüllgebirges und des hessischen Hügellandes, die fern im blauen Dunst verschwinden, dehnen sich die Felder in der welligen Ebene. Fruchtgesegnet, das Korn schon in Ähren stehend, die dunkelgrüne Gerste, der frische Hafer, der schwere Weizen, des Schwälmers größter Stolz. In Windungen am Flüsschen hin zieht unsere Straße. Aus Erlen und Weidengezweig glitzert das fischreiche Wasser. Dicht beieinander sitzen die Müller, denen Aalfang und Hechtkorb von der Schneeschmelze an bis zu den Herbstfrösten nicht leer werden. Und hier und da springen die Forellen über die rauschenden Wehre, und der sandige Uferrand steckt voll von Krebsen. Ob auch das alles seiner Gewohnheit gemäß sich untereinander zuweilen auffrisst, das Gewässer wimmelt doch noch von silberschuppigem und scherenbewaffnetem Getier, und die Krebspest hat ihm nicht viel anhaben können. Überall am Fluss, am Weg, an den Wiesenpfaden hin ziehen Hecken; heute von Blüten der wilden Rose überschüttet; der Schwälmer leidet nicht, dass seinen Vögeln die Nesterverstecke weggebrannt werden.
Nun sind wir beim ersten Dorfe. Gleich bei der Brücke empfängt uns das Wahrzeichen der Schwalm; im Tümpel schwimmts, in der Wiese watschelts, weithin in den Feldern flatterts von Gänsen. Zu Tausenden tauchen sie die Schnäbel in Schwalmwasser, ein jeder Ort hat seinen wohlbestallten Gänsehirten, und hinter der Herde junger Gänslein im gelben Flaumkleide trottet trotz Pfingsttag der Bub und das Dirnchen, das selber kaum laufen kann, mit dem Haselschwänzchen an der Gerte, hütend einher. Und wenn die Flaumen Federn und die kleinen Gänschen groß und fett geworden, so um Martini herum, da hat die Schwälmer Gans einen gar guten Namen, wo sie hinkommt.
In der Koppel vor der Brücke tummeln sich die Fohlen, kräftige, feurige Tiere, glänzend von Fell, von sehnigem Bau. Die Pferdezucht der Gegend ist weitberühmt, Käufer für Schwälmer Pferde kommen von fern her zum Alsfelder Prämienmarkt. Ein Zug schöner kräftiger Tiere wird zur Schwemme geritten. Auf jedem droben sitzt ein kleiner Knirps, kaum drei Käse hoch, wie angewachsen. Die werden alle auf dem Gaule groß. Und dann kommen sie – hoch und schlank geworden – zur Garde nach Potsdam und Berlin, und wenn der Urlauber hinterm Erntewagen geht oder auf der Kirmes tanzt, sitzt ihm die Kürassiermütze keck und verwegen auf dem Ohr.
Nun gehts über die Brücke und herunter vom Rad, das Pflaster hierzulande hat uns schon manche Speiche gekostet. Von der blanken Pfingstsonne warm beschienen, liegt das Nest lustig bunt im Grünen da. Von altersher haben sie ihre besondere Freude am Farbigen. Haus und Gerät und die prächtige Tracht, alles gleißt in Farben. Wundervoll liegt so ein Schwälmer Dorf in der Landschaft, kein Künstler hätte es können mit feinerem, mit sichererem Gefühl so hinstellen. Wie die bucklige Gasse umbiegt, wie die Häuser in der Senkung am Wasser malerisch sich reihen, wie die große Hofreite – an drei Seiten geschlossen – ein Reich für sich und ein köstliches Bild zugleich darstellt! Hohe steile Treppenstufen mit einem hohen steilen Regendächlein drüber, führen zum Wohnhaus. Den Fachwerkbau hat der Dachdecker mit vorspringendem Ziegeldach gedeckt. Schöne braune Eichenbalken hat der Zimmermann durchgezogen. Der Schreiner hat Herzen eingeschnitten in die Kellertür und Fensterläden und den Verschlag unter der Treppe zum Lüften. Und hat hölzerne Gänse ausgeschnitten, die tragen auf dem Rücken die Blumenbretter vor den Fenstern. Dann ist der Weißbinder gekommen und hat himmelblau oder grasgrün gestrichen, Haustüre, Stalltür, Scheuertor, Schaltern und Blumenbretter, hat weiße Striche gezogen und starre weiße Lilien, Tulipanen, Kränzlein aufgemalt, zuletzt unter den Dachbalken her Sprüche gezeichnet, ernste und heitere, und nicht vergessen aufzuschreiben, wann und von wem das Haus gebaut ward, dass es mit Gottes Hilfe geschah, und dass der es vor Blitzen und Feuersbrunst bewahren möge. Und endlich ist der Bauer gekommen und hat einen Lindenbaum neben die Treppe gepflanzt, und die Bäuerin hat die Bretter voll von Blumen gestellt, dass es blüht und rankt und leuchtet vor ihrem Fenster von Fuchsien und Balsaminen, von roten Nelken und gelben Pantöffelchen, von Geranien und Gelbveigelein. Mitten im Gehöft macht sich der hochgetürmte Misthaufen breit. Und der Ziehbrunnen, an dem an schöngeschmiedeter Kette der geschnitzte Eimer hängt, wird vom Lindenbaum beschattet.
Über den Hof stapft die Magd mit den Stalleimern zum Brunnen. Es ist noch früh am Tag, Strümpfe hat sie noch keine an, die baumeln – kunstvoll durchbrochen gestrickt – zum Trocknen überm Gartenzaun, und das lange Hemd hängt ihr, gar nicht feiertägig sauber, eine halbe Elle lang unter dem einzigen, kaum über die Knie reichenden Rock herunter. In ein paar Stunden, da sollt ihr sie sehen! Da steht sie in ehrbarer Würde in ihren vierzehn, fünfzehn Röcken auf hohen, schnallengeschmückten Stöckelschuhen und blitzt von Rot und Gold, von Seide und Stickerei und gewirkten Bändern. Und die Haustochter, für die eben der Knecht in weißem Hemd und weißen Kniehosen das Kutschwägelchen zur Hochzeit nach Zella richtet, die geht gar in zwanzig Röcken, und ist angetan, dass einem die Augen übergehen, wenn sie aus der Kammertür tritt. Die „Nähtersch“, die sie drinnen hinterm Kammerfenster schon seit geraumer Weile putzt, wird noch ein paar Stunden Arbeit haben, bis alles an ihr in Richtigkeit ist.
Bei der Hochzeit in Zella, da wollen wir doch auch dabei sein. Willkommen sind wir, das ist hier geheiligter Brauch. Trete ich über des Hausvaters Schwelle, so bin ich sein geehrter Gast, so lange es mir gefällt. Und wiederum nötigt er mich auch nicht zum Bleiben, wenn es mich zu gehen gelüstet. An der Brücke bei Zella hat sich schon viel Volks versammelt, der Brautwagen ist in Sicht auf der Höhe von Riebelsdorf, und der Bräutigam kommt mit zwei Brautführern zur Einholung angesprengt. An der Gemarkungsgrenze halten sie still. In der blühenden Wiese, unter den Apfelbäumen scharen sich die Zuschauer, die Willingshäuser Maler und Malerinnen sind da mit Rädern und Photographier-Apparaten, die Dorfjugend von Zella – das kleinste Bübchen und Mädchen schon in vollständiger Tracht und von demselben ehrbaren Gehaben wie die Alten – steht sittsam im Straßengraben. Wir haben Muße, die Berittenen anzuschauen. Alle drei sitzen regungslos auf prächtigen Braunen, die feurig im Gebiss schäumen und nur mit starker Faust zu halten sind. Der Bräutigam ist ein wundervoller Kerl, riesenhoch, tannenschlank, von königlicher Haltung. Der schwarze, enge, langschößige Leibrock bis zu den hohen Stiefeln reichend, der schwarze Dreimaster, der tiefernste Blick aus dunklen Augen betonen die hehre Feierlichkeit der Stunde. Und der frische Blumenstrauß am Arm, das leuchtend smaragdgrüne, fransenbesetzte Seidentuch, lang an der linken Seite herabfallend, die goldüberstickten Bänder, die vom Hut herunter zu beiden Seiten über die Wangen hängen und nur weniges vom tiefbraunen, bartlosen Gesicht sehen lassen, die reden von festlicher Freude. So hält er inmitten seiner Genossen, die, hochgestiefelt, in langen weißen Leinenröcken und grünen Tuchmützen mit schwarzem Pelzrand, gleichen bräunlichen Angesichts, aus ebenso ernsten dunklen Augen in gleich anstandsvoller Haltung der Ankunft der Braut entgegen sehen. Der Wagen hält dicht vor den Reitern an. Braut und Jungfern sind den Blicken unter dicken Laubgewinden verborgen. Wo die Sonnenstrahlen durch das grüne Blätterdach gelangen, blitzt es auf von flimmerndem Gold und glühroten Flecken. Der Hochzeitsbitter erhebt sich von seinem Bänklein neben dem Wagenlenker, tritt vor und spricht vernehmlich sein Sprüchlein. Ohne Regung, wie ein Bild von Stein, schaut der schöne, stolze Freier dem Redenden in die Augen, fest hält er das zuckende Pferd. Alles ringsum schweigt, wir lauschen atemlos:
„Sag an, du stolzer Freiersmann,
Was kommt nur deinem Sinne an,
Dass du so früh dich aufgemacht,
Und hier erscheinst in aller Pracht?“
Der Bursch antwortet in halblautem, feierlichem Ton:
„Ich suche meine Braut,
Dass ich werd’ mit ihr vertraut.“
Der Alte:
„Such‘ sie dir nur, sie ist in unsrer Mitt‘,
Wir bringen auch viel schmucke Jungfraun mit.“
Tief neigt sich der Bursch auf dem Gaul, der Alte verschwindet unter den grünen Kränzen, ein Augenblick lautloser Stille tritt ein, wie eine Erscheinung steht das wunderbare Bild unter dem strahlenden Himmel. Aus dem Kornfeld steigt eine jubilierende Lerche auf. – Langsam wenden die Reiter, der Brautwagen folgt.
An der Schwelle des Vaterhauses steht der Bursch, die Braut zu empfangen, ihm zur Seite der Lehrer des Ortes, der den Willkommgruß der neuen Heimat spricht. Ein gefülltes Glas wird ihr gereicht – ich darf es nicht verschweigen, mit Schnaps gefüllt – sie muss es in einem Zug leer trinken – sie fürchtet sich nicht davor! – und über die Schulter hinter sich aufs Hofpflaster werfen. Zerschellt es in tausend Scherben, dass es klirrt, dann bringt sie Glück ins Haus. Nun tritt sie über die Schwelle. Er fasst ihre linke Hand, die Rechte reicht sie still und ernst den Eltern, Geschwistern und Anverwandten des Mannes, die ernsthaft und schweigend auf sie zutreten und im Zuge an ihr vorbeigehen. Reizvoll ist das Bild im dämmerigen Flur, auf der Treppe, auf dem Treppenabsatz; wie der wechselnde Lichtschein aus dem Flurfensterchen, vom flammenden Herdfeuer, aus der Oberstube auf die Schar der eng sich Drängenden, festlich Gekleideten fällt, über dunkle, scharfgeschnittene Männergesichter, über den blitzenden Schmuck der Frauen. Die Gesellschaft verteilt sich nach althergebrachter Ordnung in Stuben und Kammern zum Morgenimbiss. In der letzten Kammer sitzt schweigend in Gesellschaft der Ehrenjungfrauen das junge Paar, die Braut fast erdrückt unter dem Aufbau der flimmernden Brautkrone, mit frischen Blumensträußen an beiden Armen. Den Imbiss, dem die andern wacker zusprechen, teilen sie nicht; in stiller Sammlung warten sie der Trauung. Die Männer, mit den schwarzen Kirchenröcken angetan, gedämpfte Rede führend, sind von den Frauen getrennt, mit denen von heute an die junge Frau das Schicksal teilen wird, das rote Käppchen über der Haarkrone, die roten Säume an den Röcken, das „Geschappel“ ablegen zu müssen, das prächtige, fächerartige Bändergesteck, das droben in der Oberstube die Dirnen schmückt. Wie die dasitzen um den großen, runden Tisch, die zwölf Köpfe unter den zwölf roten Käppchen zusammenstecken, wie die Bänderfächer, Hals, Nacken und Rücken bedeckend, gleich riesigen Blumenblättern um die roten Tupfen in der Mitte stehen; wie die zwölfmal zwanzig Röcke sich über die Stühle im Kreise breiten, da gleichen sie miteinander einer riesengroßen, feurig schimmernden Blume.
Durch die offene Küchentür schauen wir zu den zwei dicken Köchinnen herein, die unterm großen Schlot über prasselnden Feuern hantieren. Genau wie all die vielen Jahrhunderte her der Brauch war beim Hochzeitsfest, so wird auch heute das Mahl gerichtet, genau so und nicht anders. Es fiele keinem ein, ein Gericht von den köstlichen Fischen, die sein Bach führt, den Gästen zur Tafel zu bringen; die Wecksupp’, der Brotbrei mit Honig und Rosinen, der steife Reis, der Schweinebraten mit Sauerkraut sind Hochzeitsessen. Auf einem Bänklein an der Küchentür stehen die Töpfe für die Bedürftigen des Ortes bereit, die zu füllen, ehe sie das Festmahl auftragen lassen, der Köchinnen erste Pflicht ist. Es sind nur wenig Töpfe – richtige Armut kommt nicht auf, dafür sorgt jeder einzelne Bauer von selber, und Arbeit genug gibt’s hier für den, der arbeiten will.
Bis zur Trauung wird noch eine Weile vergehen, denn es hat kaum in Loßhausen zur Kirche geläutet; sie nehmen das Nachtmahl dort, an zweihundert Mann, und eher kann der Herr Pfarrer nicht kommen, das Paar zusammenzugeben, ehe er nicht sein Amt dort ausgeübt hat. So gehen wir die kurze Strecke am Wasser hin, den sorgsam hochgelegten gepflasterten Kirchenpfad nach Loßhausen, warten, im warmen Sonnenschein sitzend, vor dem Kirchlein die Predigt ab, die um halb zehn angefangen hat und bis elf dauern wird, und hören der ruhigen, ganz langsam die Sätze fügenden Stimme des alten Pfarrers zu, die aus dem geöffneten Fenster ganz vernehmlich zu uns dringt.
Die Worte drinnen sind verhallt, die Orgel setzt ein, wir dürfen leise eintreten, das Bild in uns aufzunehmen, das – unvergesslich – in dem sonnendurchleuchteten Kirchlein uns empfängt. An der Sonnenwand am Altar steht der Greis im Talar. Zu den Seiten von unten ansteigend sind die Bänke von dunklen Männergestalten eng besetzt. Dem Altar gegenüber im Dämmerlicht unter der Orgel breitet sich die Schar der sechzig, siebzig Frauen aus in violenfarbenen Abendmahlsschleiern, die, hoch über dem Kopfe aufgebaut, den Rücken herunterwallen, dass die ganze Schar wie in einer großen, veilchenblauen Wolke geht. Im Schiff, in der Mitte, gleißt die volle Sonne über dem blendenden Weiß und Rot und Gold der Mädchengewänder. Oben an der Orgelbrüstung entlang ist ein halbes Hundert Buben aufgereiht, von denen die flachshaarigen Rundköpfe über grüngestickten Kragen gerade noch über die Brüstung ragen. Und wie die dunklen und die schleierumwallten Gestalten, in hingegebener Frömmigkeit förmlich erstarrt, langsam schreitend zum Altare treten und Brot und Wein entgegennehmen, rinnt ein Schauer über mich, und seltsam mischt sich der Rausch künstlerischer Erregung mit dem Gefühl der Ehrfurcht vor der andachtsvollen Feier dieser fromm bewegten Seelen. – –Keiner, der gehen kann im Dorf, bleibt dem Tische des Herrn fern; zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, reicht der alte Pfarrer jedem Ortseinwohner das Abendmahl. Vierzig Jahre wirkt er in den Gemeinden seines Kirchspiels, selber einer der ihrigen, aus ihrer Mitte entsprungen; wie er Art und Wesen seiner Stammesgenossen kennt, so trifft und findet sein Wort die Gemüter. Sie hängen an ihm mit zutraulicher Liebe und in Ehrfurcht zugleich. Wenn ein Pfarrherr im Kirchspiel stirbt, geht jeder Angehörige seiner Gemeinden einen vollen Monat in tiefer Trauer; Männer, Weiber, die kleinsten Kinder sogar; kein Fest wird gefeiert oder besucht, kein Kind getauft, kein Paar getraut. Ihre Pfarrer sind fast alle aus dem heimischen Boden erwachsen. Des Schwälmers Erstgeborener erbt Haus und Hof, Gut und Herden. Der nachgeborene Sohn arbeitet als Knecht im Lohn auf dem Hof, oder wird Pfarrer, Lehrer, zuweilen Doktor. Auch der bleibt im Lande, wie auch kaum ein Schwälmer als Arbeiter irgendwelcher Art oder als Auswanderer in die Fremde geht. Zähes Festhalten am heimischen Boden, das die Erhaltung der altvererbten Sitten so sehr begünstigt, liegt ihnen im Blut.
Im vollen Ornat wandelt nun der greise Pfarrer, nachdem er all die Hungernden und Dürstenden gespeist und getränkt hat, auf dem Kirchenpfad gen Zella, wo die Glocken zu läuten anfangen und unter grünen Birken vor dem Hause der Hochzeitszug sich rüstet. An der Kirchenpforte erwarten wir sein Nahen. Langsam und gemessenen Schrittes kommen sie daher, der Bräutigam wird vom Vater und ehrwürdigen männlichen Verwandten geleitet, die Braut geht in der Mitte der Mädchen, eine Schar von Frauen folgt, die Kinder, die getreuen drolligen Abbilder der Alten, an der Hand führend. Langsamen gemessenen Schrittes wandeln sie zwischen den alten Grabsteinen des Gottesackers, zwischen den Blumen des Grases zur Hinterpforte der Kirche, die Zweige der uralten Bäume wehen über ihnen im Sommerwind, die Sonnenstrahlen gehen über den hellen und den dunklen Gestalten hin. Und langsam und feierlich wie sie gekommen, ziehen sie nach der Trauung wieder über das stille Friedhöfchen unter den Bäumen hin, und Hansklaus Erhard Pfalzgraf und Jungfer Anneking Weckesserin sind vor Gott zum christlichen Ehebund zusammengegeben. Und nun wollen sie fröhlich feiern mit den Sippen, die zu ihrem Ehrentag gekommen sind, mit den Hoose von Junker Hansens Hof, mit den Rittern und Knauffen von Gungelshausen, den Battenbergen und Hassenpflugen und Glänzern von Nausis und Schwarzenborn am Knüll, mit den Heymüllern und Schlemmern von Schönberg und von der Feste Ziegenhain. Aber der geistliche Herr bleibt am Altar stehen, ein ander Paar mit gar bescheidenem Gefolge tritt herzu, seinen Segen zum Ehebund zu holen: und doch ist der Mann aus reichem Hause und die Braut von wohlhabenden Eltern her. Aber das Mädchen hatte sich das Recht verscherzt, das rote Käppchen der Jungfrau zu tragen, zwei Jahre lang ist sie im grünen Käppchen, vor aller Welt gezeichnet, als gebrandmarkte Mutter ohne Ehegatten einhergegangen, und erst der heutige Tag soll sie und ihr Kind wieder ehrlich machen.
Der späte Nachmittag mahnt uns zur Heimfahrt. Drinnen im Festhause bei den Pfalzgrafen wird getafelt nach der Erfüllung all der strengen Vorschriften der Sitte. Nicht aber, dass nun die Ausgelassenheit ihr Recht bekäme. Die ist hier nicht daheim. Wir dürften ruhig bis in die Nacht hinein mit ihnen tafeln, singen, tanzen – kein rohes Geschrei, kein gemeines Wort, kein wüstes Lärmen würde uns stören oder vertreiben. In unverlierbarer Würde und Ruhe, vornehm wie die Edelgeborenen, deren Einer er ist, begeht der Schwälmer seine Feste.
Die Dorfgasse liegt in sonntäglichem Frieden. Hier und da sitzt eine Alte am Fenster mit dem Gesangbuch oder mit dem Enkelkind auf dem Schoß. Sonst ist alles vor den Türen. Auf den Baumstämmen vor den Häusern ruhen die Alten, schmauchen ihre Pfeife und schweigen miteinander. Die kleinen Mädchen, die so ehrbar-drollig auf ihren hohen Absätzen in den weitabstehenden Röcken gehen, haben sich angefasst und ziehen in Reihen zur Dorflinde. Die Buben sitzen aufgereiht auf der Brücke, gucken ins Wasser, spucken wie die Alten und reden auch nicht viel. Die Burschen schieben Kegel im Wirtshausgarten in der Wiese. Die Dirnen schlendern Hand in Hand ein wenig ins Grüne, nicht weit. Die Woche bringt Bewegung genug, die Heumahd steht bevor, und am siebenten Tage soll der Mensch ruhen.
Hier die Erstveröffentlichung:
Frieda Bücking, Alsfeld und die Schwalm. Aufsätze und Briefe. Mit einem Geleitwort von Alfred Bock, im Auftrage von Verwandten und Freunden als Privatdruck herausgegeben von Richard Uhde, Verlag Richard Uhde, 1. Auflage, Marsplatz 1, München 1926, S. 116-123.
Nachdruck in der Neuauflage:
Frieda Bücking, Pfingsttag in der Schwalm, in: Frieda Bücking, Alsfeld und die Schwalm. Aufsätze und Briefe von Frieda Bücking (1853-1925), hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld, Alsfeld 1994, S. 53-60.
[Stand: 15.05.2024]