Fachlich umstrittener Quellenbeleg von 1222 für mögliches Stadtjubiläum

Gutachten des Hessischen Staatsarchivs (HStAD) vom 12. April 2023

Abschrift des HStAD-Gutachtens vom 12. April 2023:

Sehr geehrter Herr Haltenhof,

unter Bezugnahme auf Ihre Anfrage vom 27. März 2023 geben wir zur Frage der urkundlichen Überlieferung einer hochmittelalterlichen Stadtgründung von Alsfeld folgende gutachterliche Stellungnahme ab:

Die heutige Stadt Alsfeld bezieht sich für ihre historische Stadtgründung in der regionalen Geschichtsschreibung traditionell auf eine von Wezzilo von Nidda veranlasste und auf 1222 März 13 datierte Schenkungsurkunde, die im Original als Ausfertigung (Pergament, 10,2 x 15,9 cm) mit anhängendem Siegel der Stadt Grünberg aus dem Bestand des ehemaligen Klosters Arnsburg stammt. Zunächst überliefert im Fürstlich Solms-Lich’schen Archiv in Lich (als digitale Kopie zudem unter HStAD, A 14 Nr. 4850) wird die Urkunde seit der 2018 erfolgten Übernahme des Adelsarchivs in das Hessische Staatsarchiv Darmstadt unter der Signatur HStAD, B 25 A Nr. 23 verwahrt.

Ausgehend von dem in der Urkunde an siebter Stelle genannten Zeugen Sifridus scabinus de Adelsfelt, der mit dem Amtstitel eines Schöffen zugleich auf städtische Verwaltungsstrukturen schließen lässt, ist jedoch bislang – trotz einer breit geführten Fachdiskussion in der Literatur und zuletzt auch in den Printmedien – wohl nicht abschließend geklärt, inwieweit der Quellenbeleg zu Recht als „Geburtsurkunde“ der Stadt Alsfeld herangezogen werden kann.

Mit Blick auf die ältere ortsgeschichtliche Literatur aus dem 19. Jahrhundert ist zunächst festzustellen, dass unter der Überschrift „Urkundliche Gewissheit“ der relevante Beleg in einem ersten

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Schritt lediglich als sichere Erwähnung von Alsfeld mit dem Hinweis auf den Zeugen „Sifridus scabinus de Adelsfelt“ angeführt wird, um dann jedoch daraus den städtischen Charakter von Alsfeld abzuleiten.1 Ganz offenkundig wurde die Belegstelle in der deutschen Übersetzung dahingehend interpretiert, dass „Siegfried, Schöffe aus Alsfeld“ gleichbedeutend sei mit der Aussage „Siegfried, der ein Schöffe in Alsfeld war“. Neben der Tatsache, dass man das Zitat vereinzelt in der Literatur sogar fälschlicherweise gleich mit „in“ anstatt „de“ wiedergegeben hat2, blieb die Frage nach der korrekten Übersetzung – und damit auch der richtigen lokalen Zuordnung – zunächst für die 700-Jahrfeier der Stadt Alsfeld im Jahr 1922 scheinbar irrelevant. Erst im Vorfeld und dann in den 1972 erschienenen Publikationen anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums wurde die bislang unbeantwortet gebliebene – oder doch zumindest nicht eindeutig geklärte – Frage erneut aufgeworfen. So hatte Hans Joachim von Brockhusen bereits 1962 erste Zweifel an Übersetzung bzw. Interpretation des relevanten Quellenzitates angemeldet,3 die er dann 1972 nochmals in aller Deutlichkeit äußerte: „Wenn 1222 ein „Sifridus scabinus de Adelsfelt“ als Urkundenzeuge in Grünberg auftritt, haben wir es, (…), nach der lateinischen Wortstellung wohl eher mit einem Siegfried aus Alsfeld, zur Zeit Schöffen in Grünberg, zu tun als mit einem Schöffen in Alsfeld selbst, und man kann – verzeihe mir der Leser die Ketzerei – immerhin ein wenig daran zweifeln, ob das Jubiläumsdatum derart hieb- und stichfest ist, (…)“.4 Auch von anderer Seite wurde in der Festschrift von 1972 die Unsicherheit der Belegstelle durchaus eingeräumt, um dann aber daraus am Ende dennoch den städtischen Charakter von Alsfeld ableiten zu wollen.5 Im Gegensatz dazu ließ die Grünberger stadtgeschichtliche Forschung in ihrer ebenfalls 1972 erschienenen Publikation kaum Zweifel darüber aufkommen, dass der 1222 genannte Siegfried ein Schöffe in Grünberg gewesen sei, der zwar aus Alsfeld stamme, aber von Amts wegen als Mitglied des Grünberger Stadtgerichtes anzusprechen sei.6

Vor dem Hintergrund dieser doch stark voneinander abweichenden Quelleninterpretation wird ein erneuter Blick auf die Syntax, die deutsche Übersetzung und den Überlieferungshorizont des relevanten Urkundenbelegs notwendig. Dabei ist zunächst die Nennung Sifridus scabinus de Adelsfelt mit der Identifizierung eines Zeugen aus diplomatischer Sicht absolut unstrittig. Ebenfalls ohne Zweifel kann die Übersetzung ins Deutsche mit „Siegfried, Schöffe aus Alsfeld“ angegeben werden. Die daraus resultierenden Implikationen – verbunden mit der spezifischen Überlieferungslage – lassen sich wie folgt zusammenfassen:

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1. Die durch den schriftlichen Beleg dokumentierte Wortstellung kann nur den Schluss zulassen, dass es sich um einen Schöffen namens Siegfried handelt, der aus Alsfeld kommt, aber nicht zugleich Amtsträger in Alsfeld ist. Dieser Befund findet seine Erklärung durch:

a) Die Präposition „de“ wird im Lateinischen primär in der Bedeutung „von“ oder „aus“ verwendet. Dabei ist der Bezug auf eine Lokalität entscheidend, nicht etwa auf eine Amtsfunktion. Die grammatikalische Konstruktion „scabinus de“ kommt in den zeitgenössischen Quellen zwar vor, muss in der Regel aber als Herkunftsangabe verstanden werden.

b) Der lateinischen Grammatik entsprechend ist jedoch scabinus in die eigentlich zutreffende Bezeichnung, die den Bezug zwischen dem Amt eines Schöffen und dessen lokalen Tätigkeitsfeld bzw. Amtszuständigkeit wiedergibt. Aus diesem Grund lässt sich die Konstruktion „scabinus in“ überaus häufig in den hessischen Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts finden. Zum Vergleich sei hier nur hingewiesen auf etwa „Nicolaus, scabinus in Andernach“ in einer Urkunde von 1269 Dezember 11 (HHStAW, Best. 75 Nr. U 1373) oder auch „Ludewicus dictus de Fronhusin, noster scabinus in Marpurg“ in einer Urkunde von 1277 Februar 16 (HStAM, Urk. 37, Nr. 367). Hinzu kommen die Entsprechungen in deutschsprachigen Urkunden, wobei hier in der Regel für „in“ die Präposition „zu“ – und eben nicht „von“ – verwendet wird. Anzuführen wären hier etwa für das Jahr 1304 ein Heinrich von Fischborn („Henricus von Vissburn“), Schöffe zu Alsfeld („Scheffin zu Alsfeld“) (HStAM, Best. Urk. 53 Nr. 290) oder auch Hantzelo Hartmud, Schöffe zu Alsfeld („eyn scheffin tzu Alsfeld“) in einer Urkunde von 1349 August 7 (HStAD, A 3 Nr. 5/6).

2. Fachlich nicht gerechtfertigt ist zudem eine Übersetzung von „scabinus“ mit „Bürger“, um damit eine Herleitung im Sinne von „Bürger aus Alsfeld“ zu generieren.7 Die zutreffende Übersetzung von scabinus ist eben Schöffe oder Stadtrat. Zwar ist die Ableitung, Schöffen seien mit Bürgerrecht ausgestattete Männer, korrekt, jedoch nicht die begriffliche Gleichsetzung.

3. Zu berücksichtigen sind hier schließlich der Entstehungs- und Überlieferungskontext der relevanten Urkunde. Ausgehend vom Rechtsgeschäft einer Schenkung beurkundet das Stadtgericht Grünberg, d. h. die genannten Zeugen stehen in direkter Verbindung zur städtischen Verwaltung der Stadt Grünberg, zumal die Urkunde mit dem kleinen Siegel der Stadt Grünberg beglaubigt wurde. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass der genannte Siegfried ein Schöffe in Grünberg war, der aus Alsfeld stammt.

Unter Berücksichtigung aller hier untersuchten Überlieferungsaspekte ist festzustellen, dass der Zeugenbeleg aus der Urkunde von 1222 März 13 aus fachlicher Sicht nicht für den Stadtcharakter von Alsfeld zu diesem Zeitpunkt herangezogen werden kann.8 Insofern ist als sicherer Beleg für eine schriftlich dokumentierte Entwicklung Alsfelds als Stadt die lediglich auf das Jahr datierte Urkunde von 1231 anzuführen, die als Ausfertigung im Hessischen Staatsarchiv Marburg unter der Signatur HStAM, Urk. 18 Nr. 13 verwahrt wird. In der ziegenhainischen Urkunde wird ein Gütertausch zwischen den Klöstern Spieskappel und Immichenhain bestätigt. Dabei treten als Zeugen u. a. ein Friedrich (Frethericus) und ein Konrad Kastellan (Conradus Kastelan), beide als Alsfelder Bürger (burgenses in Adelsveld) bezeichnet, auf. Erst hier kann durch die explizite Nennung der „burgenses“ der Stadtcharakter von Alsfeld mit allen rechtlichen Implikationen bestätigt werden.

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Vor dem Hintergrund der geführten Argumentation bleibt abschließend festzuhalten: Im Zuge einer nicht überlieferten – und eventuell auch niemals ausgestellten – Stadtrechtsverleihungs-Urkunde kann Alsfeld für die Zeit des Hochmittelalters und darüber hinaus nicht auf eine offizielle Stadtrechtsverleihung verweisen. Der in Rede stehende und in der Literatur breit diskutierte (vermeintliche) Beleg von 1222 März 13 ist aus fachlicher Sicht nicht als schriftlicher Beweis für den städtischen Charakter von Alsfeld heranzuziehen, da hier der Bezug des städtischen Amtes eines Schöffen mit Bürgerrecht für Alsfeld in der Urkunde nicht besteht.

Demnach ist für eine amtliche Bestätigung des städtischen Charakters von Alsfeld nach aktuellem Kenntnisstand die Belegstelle aus der Urkunde von 1231 verbindlich anzugeben. Insoweit erfüllt die Stadt Alsfeld die Voraussetzung, um im Jahr 2031 ein fachlich fundiertes 800-jähriges Stadtjubiläum begehen zu können.

Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
gez. Prof. Dr. Lars Adler

Anmerkungen:

1 Wilhelm Gottlieb Soldan, Zur Geschichte der Stadt Alsfeld (1. Teil), Programm des Großherzoglich hessischen Gymnasiums zu Gießen, als Einladung zu den am 20., 21. und 22. März 1861 statt findenden öffentlichen Schulfeierlichkeiten, Gießen 1861, S. 4f. Hier wird nach Anführung weiterer historischer Erwähnungen von Alsfeld resümierend festgestellt: „Die in den angeführten Urkunden vorkommenden Amts- und Standesbezeichnungen beweisen, dass Alsfeld in jener Zeit nicht nur eine Burg und Stadt, sondern auch eine Münzstätte war“. Ebenda, S. 5.

2 Vgl. etwa Wilhelm Nebel, Über Schwert und Siegel der Stadt Alsfeld, in: Archiv für hessische Geschichte 4 (1845), S. 1-19, hier S. 7.

3 Hans Joachim von Brockhusen, Das älteste Alsfelder Siegel und seine Verwandtschaft, in: Hessische Heimat 12 (1962), S. 19-21, hier S. 19.

4 Hans Joachim von Brockhusen, Um Wappen und Siegel der Stadt Alsfeld, in: Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e. V., Alsfeld 1972, S. 53-64, hier S. 5.

5 Vgl. Herbert Jäkel, 13. März 1222, in: Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Alsfeld, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e. V., Alsfeld 1972, S. 51-52. So heißt es hier zunächst: „Allerdings lässt sich damit [der Belegstelle von 1222; L. A.] keineswegs einwandfrei feststellen, ob „Sifridus scabinus“ Bürger in Alsfeld war; denn er kann ebenso gut Bürger in Grünberg gewesen sein – was wohl der Fall war –, der nur nach seinem Herkunftsort, nämlich nach Alsfeld benannt worden war.“ Gleichzeitig wird daraus jedoch nur zwei Sätze weiter darauf hingewiesen, dass „doch immerhin mit dem Hinweis auf „de Adelsfeld“ geschlossen werden [kann], dass Alsfeld schon ein bekannter Ort, mindestens Stadt war.“ Ebenda, S. 52.

6 Vgl. Waldemar Küther (Bearb.), Grünberg. Geschichte und Gesicht einer Stadt in acht Jahrhunderten, Gießen 1972, S. 46. Hier heißt es: „Es werden genannt ein Priester Christian, Guntram der Älterem Meingot Gulden, (…) und ein Schöffe Siegfried von Alsfeld. Wenn auch die Stellung dieser Zeugen im öffentlichen Leben der Stadt Grünberg nicht ausdrücklich genannt wird, so ist doch anzunehmen, dass auf Grund der Besiegelung durch die Stadt es sich bei diesen Personen um solche handelt, die mit Grünberg in Verbindung stehen, das heißt: der Priester Christian dürfte ein Grünberger Geistlicher gewesen sein, die folgenden weltlichen Personen Burgmannen und zum Schluss ein Schöffe. Die Besiegelung unter der Siegelbezeichnung Secretum lässt in diesen Personen die Mitglieder des Grünberger Stadtgerichtes erkennen“.

7 Vgl. etwa Matthias Nicolai, Alsfeld bis zur Stadtwerdung. Wie alt ist die Stadt Alsfeld wirklich, in: Alsfeld. 800 Jahre Stadtgeschichte 1222-2022, Festschrift zum Stadtjubiläum, hrsg. vom Geschichts- und Museumsverein Alsfeld e. V. mit Unterstützung der Stadt Alsfeld, Alsfeld 2022, S. 9-21, hier S. 9.

8 Zu diesem Befund kam u. a. bereits 1997 auch Herbert Jäkel, der noch 1972 eine lavierende Haltung zu dieser Frage eingenommen hatte. Vgl. Kleine illustrierte Geschichte der Stadt Alsfeld, Alsfeld 1997, S. 15. Des Weiteren wird hier ausgeführt: „Unter den 24 Zeugen der vor dem Stadtgericht Grünberg vollzogenen Schenkung stehen ‚Sifridus scabinus de Adelsfelt‘ an 7. und ‚Siboldus et Fridericus filii Siboldi de Adelsfelt‘ an 13. und 14. Stelle. Sie gehörten zu den angesehensten Grünberger Familien und war „Scabini“, Bürger, und zwar in Grünberg – sie stammten lediglich aus Alsfeld, was aber immerhin auf einen größeren bekannten Ort schließen lässt“. Ebenda, S. 16.

[Stand: 12.04.2023]