Von Dr. Herbert Jäkel, Alsfeld (1997)
Der Frühling hat seinen Einzug gehalten. Mit seinem Einzug ist in Alsfeld ein besonders schöner Brauch verbunden. Jahr für Jahr erklingen im Monat Mai vom Turm der Walpurgiskirche ernste und heitere Lieder, Choräle und besinnliche Volksweisen, und zwar täglich ab 19.15 Uhr, außer samstags. Am Montag, Mittwoch und Freitag spielt der Posaunenchor Alsfeld unter Leitung von Heinz Gischler, am Dienstag, Donnerstag und Samstag ist der Posaunenchor Altenburg unter Leitung von Karl Buchhammer an der Reihe.
Herzlichen Dank muss man den Mitgliedern der beiden Posaunenchöre sagen, die an jedem Werktag des Monats Mai die 145 Stufen zum Umgang des Turmes der Walpurgiskirche hinaufsteigen, ein paar Stufen höher im oberen Stübchen ihre Blasinstrumente auspacken, vielleicht noch einmal schnell proben und schließlich die altvertrauten Weisen an den Ecken des Umgangs spielen. Das alles ist nicht selbstverständlich.
Unsere moderne und schnelllebige Zeit hat mit vielen Gepflogenheiten aufgeräumt und damit den Zustand unserer Generation sichtbar gemacht. Wir sind zu einer Wegwerfgesellschaft geworden. Wir haben nicht nur kurzgebrauchte Gegenstände, auch alte Gebäude und zum Teil vollständig erhaltene historische Stadtkerne „weggeworfen“. Unsere „fortschrittlichen“ Zeitgenossen bescherten uns Zerstörungen von gewachsenen Gebietskörperschaften, Gemeinschaftsformen, ja, sie haben selbst vor traditionsreichen Namen nicht haltgemacht.
Nicht allein Nostalgiewelle, Bürgerinitiativen, Denkmalschutz und Naturschutz und dergleichen hatten versucht, etwas von jener Welt zu retten, in der sich der Mensch heimisch fühlt. Vielerorts wurde schon beinahe Verlorenes wieder neu zum Leben erweckt, alte Häuser, vergessene Traditionen „revitalisiert“, manchmal gleich wieder übertrieben und in marktschreierischem Sinne als „heile Welt“ angeboten.
Alsfeld hatte das Glück, dass in seinen Mauern Überliefertes lebendig blieb, dass liebgewonnene Bräuche nie ganz ausgestorben waren, dass Traditionen am täglichen Leben – wenn auch bescheiden und bruchstückhaft – teilhatten. Und das nur deshalb, weil sich immer wieder Bürger gefunden haben, die in die Überlieferung eintraten und sie fortführten. Zu diesen althergebrachten Bräuchen gehört das Maiblasen, das seit 1947 wieder gepflegt wird und heute so etwas wie eine Renaissance erlebt. Es hat sich trotz der Hektik und des Lärms unserer Zeit erhalten. Es beeindruckt viele Menschen nach wie vor. Wie sonst ist es zu verstehen, dass gerade die Wiedersehensfeiern der einzelnen Schuljahrgänge mit einem Treffen auf dem Marktplatz verbunden sind, um das Maiblasen zu erleben. Dieser Brauch hat viele Freunde in nah und fern, ihnen ist das Maiblasen ans Herz gewachsen.
Ältere Mitbürger erinnern sich gerne an die vielleicht beschaulichere Zeit, wenn die Alsfelder an den linden Maiabenden vor ihrer Haustüre auf einer Bank saßen, sei es am Kirchplatz, in der Hofstatt, im „Schneppehai“, in der „Stewersgass“, an der „Blau Petsch“ oder am „Grabborn“, und Muse hatten, den Liedern zu lauschen, die über die Dächer der Stadt klangen. Das war ihr „Feierabend“ – ein Begriff, der heute kaum noch Bedeutung hat, aber damals den Abschluss der täglichen harten Arbeit beinhaltete, von der man jetzt getrost ausruhen konnte.
Auf dem Turm der Walpurgiskirche wohnte früher bis 1921 der Türmer, der auch Stadtmusikus war. Er musste neben seiner Aufgabe als Wächter vor Feind und Feuer auch alltäglich zu festgesetzter Zeit und Stund, wie wir aus den Belegen von 1626 bis 1652 wissen, „seine Gesetze“ vom Turm blasen. Aus dem Instruktionsbrief des Jahres 1772 entnehmen wir, dass dies täglich fünfmal zu geschehen hatte, und zwar um 3.00 Uhr morgens, um 8.00 und 11.00 Uhr vormittags, um 15.00 Uhr nachmittags und um 21.00 Uhr abends. Die Besoldungs- und Instruktionsbriefe aus der Zeit von 1788 bis 1818 verlangten von dem Türmer ebenfalls das fünfmalige tägliche Spielen. Im Jahre 1816 trat eine Änderung ein, als das Blasen um 8.00 Uhr vormittags und um 15.00 Uhr nachmittags eingestellt wurde. Der Türmer musste jedoch dreimal am Tage sein Spiel erklingen lassen.
1857 wurde die Spielzeit auf das Sommerhalbjahr beschränkt, Der Stadtmusikus hatte nur fünf Monate, nämlich vom 1. Mai bis zum 30. September, Spielzeit. Aus dem dreimaligen Spielen wurde schließlich ein zweimaliges, um 11.00 Uhr vormittags und um 21.00 Uhr abends. Zu letzterer Stunde brauchte der Türmer von jetzt ab nur noch zu spielen, wenn dies bei seiner Annahme von der Bürgermeisterei ausdrücklich festgelegt wurde.
1871 wurde die Spielzeit um einen weiteren Monat gekürzt, so dass nur noch vom 1. Mai bis Ende August zu spielen war. Hier findet sich die Vereinbarung, dass der Türmer zwischen 20.00 und 21.00 Uhr spielt und auf Verlangen auch um 11.00 Uhr vormittags. Später wurde dieser Paragraph gestrichen, und schließlich hörte das Spielen ganz auf. Als man diese schöne Sitte wieder aufleben ließ, verlangte man von dem Türmer nur noch, dass er alljährlich im Monat Mai, dem Wonnemonat des Frühlings, abends um 20.00 Uhr musiziere.
An diesem Überbleibsel längst vergangener Zeit hat man festgehalten. So wie es den Stadtvätern früher ein Herzensbedürfnis gewesen war, täglich die Weisen des Türmers zu hören, so ist in Alsfeld auch heute noch genug Verständnis vorhanden, dass gemäß einer jahrhundertealten Tradition diese Sitte unserer Heimatstadt erhalten bleibt.
Auch in diesem Jahr steht der Monat Mai im Zeichen des Maiblasens. Zwar hat der Begriff „Feierabend“ für viele kaum noch einen Inhalt, das Stadtgebiet ist so weit nach draußen gewachsen und der Straßenlärm stört, doch die Alsfelder wollen nicht darauf verzichten, wenn von den Turmecken die trauten Weisen über die alten rotbunten, blauen und braunen spitzgiebligen Dächer klingen. Dann und wann lenkt doch der eine oder andere Bürger seine Schritte zur Mitte der Stadt oder zum Frauenberg oder Völsingstempel, um dort zu verweilen, wenn die Lieder in den werdenden Abend hinaus erklingen. Vielleicht erinnert sich dann der Mensch, dass das Leben noch Werte zu verschenken hat, dass es noch Friede und Freiheit, Zufriedenheit und Glück gibt.
Den Mitgliedern der Posaunenchöre, die seit 1947 die Fortführung dieses schönen Alsfelder Brauches übernommen haben, sei nochmals Dank gesagt. Kein Sturm und Regen kann sie von ihrer freiwillig übernommenen Pflicht abbringen, denn sie selbst wissen am besten um das Erlebnis des Schauens vom alten Walpurgiskirchturm über die abendliche Stadt und um die schöne Tradition des Alsfelder Maiblasens. Erfreut uns schon der Wonnemonat Mai, wenn der Frühling so richtig seinen Einzug gehalten hat, so vermitteln die alten Weisen, Volkslieder und Choräle etwas von seiner frohen Stimmung.
So setzt sich die frühere Arbeit des Türmers, der einst jahraus, jahrein und zu festgesetzter Zeit und Stunde vom Turm blasen musste, wenigstens noch für den Monat Mai fort. Diese Sitte gehört zu unserer Stadt wie die Gebäude und wie das Rathaus zum Marktplatz und all das, was Alsfeld eben ausmacht.
Erstveröffentlichung:
Jäkel, Herbert: Ein schöner Brauch: Das Alsfelder Maiblasen, in: Oberhessische Zeitung, 03.05.1997.
Die Veröffentlichung der Texte des Autors im Rahmen des Internetprojekts
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[Stand: 01.01.2024]