Die Fuhr’sche Fabrik

Von Dr. Herbert Jäkel, Alsfeld (1997)

Ein früher Industriebetrieb

Etwa einen Kilometer vom Ortskern Altenburgs schwalmaufwärts liegt, eingeengt zwischen der bewaldeten Höhe „Zu Leidenrod“ (348,9 m ü.d.M.) im Osten und dem bewaldeten „Gänsberg“ (364,5 m ü.d.M.) im Westen, zwischen der Schwalm und der Eisenbahnlinie Gießen-Fulda eine seit den 60er Jahren stillgelegte Fabrikanlage, die nach ihren früheren Inhabern die „Fuhr‘sche Fabrik“ genannt wird. Die inzwischen ziemlich verfallene Anlage weist aber eine bemerkenswert interessante Geschichte auf, gehört sie doch zu den ersten bedeutenden Gewerbebetrieben unserer Region, die noch lange vor dem Einsetzen der Industrialisierung eine maschinelle fabrikmäßige Produktion betrieben.

Lag hier Leidenrod?

Zu einer Siedlung namens „Leidenrod“, die noch heute durch Flurnamen belegt ist, gehörte einst ein Vorwerk, das Reinhard von Altenburg und Friedrich von Romrod im Jahre 1300 mit allem, was sie zu Leidenrod hatten, an den Landgrafen Heinrich I. von Hessen verkauften. 1372 wird bei dem Vorwerk auch eine Mühle genannt. 1427 erscheint Leidenrod als eine Wüstung, von einer Mühle ist keine Rede mehr, möglicherweise blieb aber der Mühlgraben bestehen. Die geschichtlichen Quellen sagen nicht viel aus.

Der „Schlag grundt“

Nach dem ältesten Flurbuch Altenburgs (um 1700) wird die an der Schwalm zwischen Leidenrod und Gänsberg aufgeführte 10. Lage „der Schlag grundt“ genannt. Der Besitzer der Parzelle Nr. 1, ursprünglich 690 Ruten, später 1455 Ruten und 128 Schuh groß, war „Herr Ober-Amtmann Schütz“; sein Grundstück war frei von Belastungen. Die Bezeichnung „Schlag grundt“ weist auf eine Mühle hin, die an dieser topographisch günstigen Stelle der Schwalm durch einen Mühlgraben gespeist wurde. Welche der im Salbuch von 1574 bzw. im Dorfbuch von 1629 und 1630 genannten Mühlen hier zu lokalisieren ist, lässt sich nicht eindeutig klären; vielleicht war es das „verfallene Schlag Muhlchen. gedachten Herrn Amtmann gewesen“ (Schetzel von Merzhausen).

Das Manufakturwesen

Die im Rahmen des Frühkapitalismus durch Zusammenschluss vorherrschender Handarbeit entstandenen Manufakturen waren die Vorläufer der Fabriken, deren Produktion durch Maschinenkraft erfolgte. Als früheste Form des Einsatzes von „Maschinen“ ist die Wasserkraft anzusehen, die mit Hilfe der Wasserräder Getreide-, Papier-, Kupfer-, Schlag-, Öl- und Sägemühlen betreiben konnte. Während schon vor 1800 die Lehren des Merkantilismus von hessischen Landesfürsten aufgenommen wurden, um durch Förderung des Handels und Verkehrs den Wohlstand zu heben, hatten die ersten Alsfelder Fabrikanten erhebliche Schwierigkeiten mit dem meist aus Zunftmeistern besetzten Magistrat der Stadt.

Tuchmanufaktur 1814 gegründet

Da die Anlage einer größeren Manufaktur in Alsfeld nicht möglich war, wurde sie oberhalb Altenburgs zwischen Leidenrod und Gänsberg nahe der Straße nach Fulda angelegt; denn nur mit Hilfe der Wasserkraft der Schwalm konnten die Maschinen, die Wolle zerrissen, sowie die sog. Schlumpf- und Strichmaschinen betrieben werden.

Zu der 1814 angelegten Tuchmanufaktur gehörten eine Maschinenspinnerei für Schaf- und Baumwolle, eine Walkmühle und eine Färberei. Die Gründer waren die Alsfelder Fabrikanten Kick und Schwarz, die schon 1811 in Alsfeld Versuche angestellt hatten, um aus dem Werg, das ist der Abfall von Hanf und Flachs, einen baumwollartigen Stoff herzustellen, der dann leicht gesponnen und als Ersatzmittel für Baumwolle verarbeitet werden konnte. Wegen der 1806 von Napoleon erlassenen Kontinentalsperre gegen England war die Einfuhr englischer Waren verhindert worden. So gelang es dem Kick-Schwarzschen Unternehmen, aus Werg ein treffliches Garn herzustellen, das chemisch gebleicht und zu Bett-Barchent verwebt wurde. Dieses Produkt erfreute sich inner- und außerhalb des Landes eines guten Absatzes. Diese 1814 bei Altenburg errichtete Werg-Baumwoll-Fabrik ist wahrscheinlich die erste und einzige ihrer Art in Deutschland gewesen. Den Fabrikanten Kick und Schwarz war es gelungen, nicht ohne Mühe und Kosten, englische Spinnmaschinen für Wolle anzuschaffen, deren [Seite 132] Ausfuhr aus England damals streng verboten war. Diese Maschinen konnten erst nach Napoleons Sturz über Frankreich bezogen werden.

Karl Dieffenbach, der letzte studierte Stadtschreiber und Syndikus von Alsfeld, lobt im Vorwort seiner 1817 erschienen „Geschichte der Stadt Alsfeld“ das neuerrichtete Manufakturgebäude bei Altenburg, „wo die mechanischen Kräfte der Natur sinnreich wirken, und doch eine Menge von Arbeitern ernähren“. Als allerdings der Preis der natürlichen Baumwolle seit 1815 um zwei Drittel absank, war die genannte Arbeit zu teuer und musste aufgegeben werden. Man stellte somit Barchent aus natürlicher Baumwolle her. Die Grobmühle zum Verspinnen der Wolle wurde durch einen einzigen Mann besorgt, das Vorlegen der Flocken durch Kinder von 7 bis 12 Jahren versehen. Jeder Zug von dieser Mühle gab 40 Fäden Garn. Jeder Zug der damit verbundenen vier Feinmühlen gab 60 Fäden. Innerhalb von 24 Stunden konnten auf der Grobmühle 100 Pfund ordinäre Wolle gesponnen und diese in 12 Stunden von den vier Feinmühlen in das vollkommenste Webergarn verwandelt werden. Das Weben, Walken, Färben und Bereiten der Wollwaren geschah in dieser Manufaktur bei Altenburg. Verfertigt wurden Tücher, Bieber, Barchent und wollene Decken.

Auf Grund der baulichen Maßnahmen waren von den Alsfelder Fabrikanten Kick und Schwarz auf ihrem Gebäude- und Hofreite-Grund ein großes Fabrikgebäude, ein großes Nebengebäude, ein kleiner Nebenbau errichtet worden.

Die Fabrikanten Kick und Schwarz

Die beiden Woll- und Baumwollfabrikanten Kick und Schwarz hatten 1789 einen Teil der Bleiche in Alsfeld gepachtet, und zwar auf 20 Jahre und zu einem jährlichen Pachtpreis von 11 fl. Als die Pachtzeit 1809 ablief und die beiden um eine Verlängerung nachsuchten, wollte der Magistrat die Bleiche nur für 6 Jahre hergeben und forderte einen jährlichen Pachtpreis von 50 fl. Darüber gab es eine heftige Auseinandersetzung sowie einen Prozess, den die Stadt verlor.

Georg Christoph Kick war ein reicher Fabrikant. Als gewählter Abgeordneter der Stadt Alsfeld gehörte der dem 1. Hessischen Landtag 1820-1821 und dem 2. Hessischen Landtag 1823-1824 an. 1836 wird er als Stadthauptmann erwähnt. Am 7. September 1810 hatte er für 7.500 fl. den Forsthof (Minnigerode-Haus) in der Rittergasse gekauft. Seine Witwe Henriette Kick, geb. Belzer, verkaufte das Anwesen am 13. Februar 1840 an den Kaufmann Meyer Wallach für 7.500 fl.

Johann Henrich Schwarz, geb. 1751, der von 1755-1762 die Lateinschule besuchte, 13 Jahre auf Wanderschaft war, 1785 das Bürgerrecht in Alsfeld erwarb, 1786 in 1. Ehe Barbara Katharina Haas, in 2. Ehe 1804 Eleonore Henriette Hoos heiratete, kaufte 1795 das große Anwesen zwischen Rittergasse und Schnepfenhain (die spätere „Alte Stadtschule“) von der Familie von Neurath. Er betrieb als Fabrikant die Leinweberei.

Sein Sohn Jakob Heinrich Schwarz, geb. 1787, der 1794-1798 die Lateinschule besuchte, 1810 das Bürgerrecht in Alsfeld erwarb, heiratet 1812 Christine Müller. Die Braut brachte 5.000 fl., der Ehemann 10.000 fl. mit in die Ehe. Er wird als Agronom, Branntweinbrenner und Fabrikant bezeichnet.

Wegen der Aufhebung des Wein- und Branntweinprivilegs der Stadt und des neuen Tranksteuergesetzes gab es jahrzehntelange Kämpfe um die Berechtigung, Branntwein herzustellen oder zu verkaufen. 1824 steht in einem Schreiben der Stadt, dass „Schwarz nicht in Alsfeld, sondern nur auf seiner oberhalb Altenburg gelegenen Fabrik zapfte“. Jakob Heinrich Schwarz war für den 5. Wahlbezirk (Romrod, Schlitz, Alsfeld ohne die Stadt) Abgeordneter im 3. Hessischen Landtag 1826-1827 und im 4. Hessischen Landtag 1829-1830, allerdings wurde seine Zulassung als Abgeordneter am 17. November 1829 von der Kammer einstimmig wegen seines Konkurses verneint.

Jakob Heinrich Schwarz hatte sich 1824-1831 auch an einem Konsortium beteiligt, das in Storndorf eine Branntweinbrennerei betrieb und deren Produkt unter dem Namen „Storndorfer Wasser“ weithin bekannt war. Schwarz betätigte sich als Schriftsteller, war Erfinder patentierter Branntwein- Destillier-Apparate, Ehrenmitglied mehrerer landwirtschaftlicher Vereine Deutschlands und der agronomischen Gesellschaft Südrusslands sowie Inhaber der Kaiserlich Russischen Verdienstmedaille.

Er verstand es, Berühmtheiten seiner Zeit für seine Zwecke dienstbar zu machen. Kein Geringerer als der Professor der Chemie, Justus Liebig, hatte während seiner Gießener Wirksamkeit nicht nur Alsfeld und die Branntweinbrennerei in Altenburg besucht, sondern eine „Beschreibung und Empfehlung einer von J. H. Schwarz vervollkommneten Branntweinbrennerei zu Alsfeld im Großherzogtum Hessen“ gegeben. [Seite 133]

Karl Hoffmann

Nachdem Georg Christoph Kick 1825 verstorben war und Jakob Heinrich Schwarz wohl Alsfeld wenige Jahre später verlassen hatte, erscheint mit Karl Hoffmann ein neuer Besitzer. Der Besitzwechsel, der im Flurbuch mit „modo H. Karl Hoffmann“ eingetragen ist, gibt kein Jahr des Wechsels an. 1835 erscheint der Fabrikant Karl Hoffmann in den Untersuchungsakten des Kreisamtes, als man im Zusammenhang mit dem Frankfurter Wachensturm (1833) unter den Beteiligten oder Mitwissern u.a. auch nach dem Gießener Wilhelm Schmidt suchte, der 1831 nach Alsfeld gekommen und Mitte 1835 als Fabrik- und Handlungsgehilfe bei dem Fabrikanten Hoffmann zu Altenburg eingetreten war.

Am 21. April 1873 wurde „die Fabrik und Oekonomie-Hofraithe“ des verstorbenen Karl Hoffmann auf Antrag der Erben des Verstorbenen öffentlich versteigert.

Mechanische Weberei und Säcke-Fabrik Fuhr

Wann der aus Schwarz kommende Georg Heinrich Fuhr die Fabrik erwarb, steht nicht genau fest; nach dem 1876 aufgestellten Brandkataster erscheint er 1886 als Besitzer. Doch schon 1885 hatte er beantragt, eine Turbine einbauen, ein neues Wehr und einen neuen Mühlgraben anlegen zu dürfen. Und schon das Brandversicherungskapital neu festgesetzt und zwar für ein zweistöckiges Fabrikgebäude, einen Nebenbau, einen zweistöckigen Anbau am Nebenbau, einen zweistöckigen Anbau am Fabrikgebäude, ein Wasserhaus, ein Färbhaus, eine Scheuer, eine Strohremise, einen Stallbau, einen Pferdestall, einen Schweinestall mit Wasch- und Backhaus und einen zweistöckigen Treppenbau am Nebenbau im Gesamtwert von39.860 Mark. Veränderungen gab es 1897 und 1926. 1886 wurden 60 bis 70 Personen beschäftigt. Besitzer wurden 1890 Konrad Fuhr (1862-1931), verheiratet mit Bertha Kasper (1866-1951), später deren Söhne Konrad Fuhr (1886-1943) und Heinrich Fuhr (1895-1960).

Die Firma Konrad Fuhr stellte, wie im „Führer durch Alsfeld“, 1922, in einer Anzeige zu lesen ist, Jutegewebe in allen Breiten für alle Zwecke, besonders für Packleinen, Sattler- und Polsterleinen her, ferner Säcke aus Jutegewebe in allen Größen und für jeden Zweck, besonders für Getreide, Kartoffeln, Mehl, Salz, Obst, Gemüse usw., schließlich Scheuertücher in jeder Größe, nur erstklassig haltbare Sorten.

Nach der gewerblichen Betriebszählung von 1925 lassen sich folgende Angaben über den Industriebetrieb machen: Die Mechanische Jute-Weberei war eine GmbH. Sie stellte Jutegewebe, Jutesäcke und Scheuertücher her. Die Firma hatte drei männliche Inhaber, ein männliches und ein weibliches Personal, 40 männliche und 17 weibliche Arbeiter, einen männlichen Lehrling und einen Meister. Aufgestellt waren 80 Stühle mit 80-160 cm Blattbreite. Es gab elektrische Einzelantriebe, 71 Motoren, 50 PS, eine Wasserturbine mit 62,3 PS, die erst 1913 eingebaut wurde, eine Dampfmaschine mit Dynamo, 50 PS, sowie Cop-, Spul- und Schermaschinen, Kalander, drei Schlichtmaschinen, 15 Nähmaschinen, im Nebenbetrieb Schlichterei, Sacknäherei und Landwirtschaft (120 Morgen) und ein Automobil.

Quellen / Literatur:

Karl Dieffenbach, Geschichte der Stadt Alsfeld, Gießen 1817.
A.F.W. Crome, Handbuch der Statistik, Darmstadt 1822.
J.A. Demian, Beschreibung oder Statistik und Topographie des Großherzogtums Hessen, Mainz 1824/1825.
G.W.J. Wagner, Statistisch-topographisch-historische Beschreibung des Großherzogtums Hessen, III. Oberhessen, Darmstadt 1830.
Th. Rothammel, Die Weberei in den Kreisen Alsfeld/Lauterbach, Dissertation, Frankfurt am Main 1927.
Flurbuch Altenburg (um 1700?).
Grundrisse über die Grundstücke und Gebäude in der Gemarkung Altenburg, 1832.
Grundbuch 1855.
Brandkataster über die Gebäude in der Gemeinde Altenburg, 1876.
Parzellenkarten der Gemarkung Altenburg, 1869-1872.
Grundstückspläne der Gemarkung Altenburg, 1921-1925.

Erstveröffentlichung:

Jäkel, Herbert: Die Fuhr’sche Fabrik, in: Magistrat der Stadt Alsfeld (Hrsg.), Alsfeld und seine Stadtteile (Band 8), Altenburg, Alsfeld 1997, S. 131-133.

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[Stand: 01.01.2024]