Die Fuhr’sche Fabrik von 1925 bis 1945

Von Helmuth Riffer, Alsfeld (1997)

Die wirtschaftliche Lage nach 1918

Der wirtschaftliche Niedergang der deutschen Textilindustrie nach dem ersten Weltkrieg traf die kleinen Jutewebereien in Deutschland ganz besonders hart. Die Rohjute wurde in Indien gewonnen, das zu dieser Zeit zum englischen Dominion zählte. Die Pflanzungen und die ersten Veredelungsbetriebe in Indien waren alle in britischen Händen; die Preise für die Rohjute wurden für nichtenglische Verarbeiter hoch angesetzt, da die englischen Spinnereien und Webereien natürlich selber stark an der Herstellung und dem Verkauf von Grobtuchen interessiert waren. Alle diese Bestrebungen wurden von der britischen Regierung unterstützt, da ihr an einer eigenen prosperierenden Wirtschaft gelegen war.

Für die großen Jutespinnereien und Jutewebereien in der Gegend von Emsdetten – auch Bad Hersfeld – waren diese Probleme jedoch nicht so brennend. Sie bezogen die Rohjute en gros und konnten sie bis zum fertigen Endprodukt in einem Zug bearbeiten. Anders sah das aber für die kleinen Webereien in unserem Bereich aus, wozu auch die Firma Konrad Fuhr in Altenburg zählte. Das Jutegarn wurde in Spulen per Waggon an die Alsfelder Güterabfertigung angeliefert, es musste per Lastwagen nach Altenburg gebracht und im dortigen Fabrikbereich auf Kettbäume und Cops umgespult werden.

Ein Bahnanschluss bot sich an und war auch geplant, konnte aber aus Kostengründen nicht verwirklicht werden. Hauptabsatzgebiete der Weberei Fuhr waren der Raum um Halle und die Magdeburger Börde, dabei hatte der Betrieb sehr unter starkem Konkurrenzdruck zu leiden. Nur in kleinerem Maße wurden die Frankfurter Großhändler Wilhelm Dietzel, Robert Brubacher und Strupp & Sundheim mit Scheuertüchern und Säcken beliefert. Ende der 20er-Jahre verfielen die Preise für Jutegewebe und die Absatzlage verschlechterte sich derart, dass die Weberei Fuhr nur noch etwa 40 Leute in Kurzarbeit beschäftigen konnte.

Wie so viele kleine Betriebe hatte die Firma Fuhr mangels Barmitteln auch mit „Gefälligkeitswechsel“ arbeiten müssen – ein wirtschaftliches Aus konnte aber durch ein großzügiges Moratorium durch Lieferanten aus Emsdetten und Bad Hersfeld vermieden werden.

Der wirtschaftliche Aufschwung nach 1933 und die Kriegsjahre

Langsam besserte sich die allgemeine wirtschaftliche Lage nach 1933 – insbesonders als Fuhr ein „staubdichtes Teergewebe“ für die Düngemittelindustrie herstellte. Im Zuge der Aufrüstung wurden dann größere Mengen an Grobtuchen gebraucht. Mit der NSBO (der damaligen NS-Gewerkschaft) wurde ein günstiger Manteltarifvertrag ausgehandelt und die Belegschaft aufgestockt. Mittlerweile hatte sich das Reich von der englischen Jute unabhängig gemacht; die deutsche Papierindustrie hatte in Verbindung mit der Chemie eine recht haltbare und geschmeidige Papierfaser entwickelt, die sich in den Grobtuchwebereien gut verarbeiten ließ. Bis 1939 wurde zwar noch Jutegarn in geringen Mengen verarbeitet, ab Mitte 1939 gab es aber nur noch das vorerwähnte Papiergarn. Nach Kriegsbeginn musste Fuhr die Produktion von Scheuertücher ganz einstellen: es durften nur noch Kartoffel-, Zwiebel- und Fruchtsäcke produziert werden. Zusätzlich erhielt der Betrieb die Auflage, Strohsäcke für Wehrmachtsunterkünfte und Gefangenenlager herzustellen.

Der Betrieb bekam eine „Wehrbetriebsnummer“. Da die Belegschaft für den von der Reichsuntergruppe geforderten Warenausstoß nicht mehr ausreichte, wurden der Weberei Fuhr dreißig junge Polinnen vom Arbeitsamt zugewiesen [Zwangsarbeiterinnen, AH]; später kamen noch zehn Mädchen aus der Ukraine hinzu. Diese 40 Frauen waren in einem alleinstehenden südlich liegenden Fabrikgebäude untergebracht. In dem Haus mussten eine Großküche und mehrere Duschräume installiert werden; eine ältere Polin, Sofia Wiczorek, kochte für die Mädchen und hielt die Zimmer sauber. Die Lebensmittel wurden mit den damals üblichen Bezugsmarken von der Bäckerei Hartmann, bei Metzger Duchardt und von Lebensmittel-Kimm bezogen. Die Mädchen durften von ihrem Verdienst einmal im Monat Geld nach Hause schicken. Es waren besondere rote Überweisungsträger, die mit der Sonderaufschrift „Post im Osten“ versehen werden mussten. Zu Hause konnte den Angehörigen das Geld in „Reichskassenkreditscheinen“ ausgezahlt werden – eine damals in Polen gern angenommene Geldsorte. Das änderte sich jedoch später. 1944 wollten die Polen diese Sorte Papiergeld nicht mehr haben. Die Polinnen durften einmal im Jahr für etwa eine Woche nach Hause fahren, jedoch nur zu Angehörigen im Warthegau, aber nicht in das damalige „Generalgouvernement“. Die Urlauberinnen kamen alle wieder zurück. Ansonsten wurden die jungen Mädchen sehr kurz gehalten. Wollten sie an arbeitsfreien Tagen auswärtige Freunde besuchen, musste ein Ausgangsschein geschrieben werden – zunächst von der Bürgermeisterei Altenburg, später von der Alsfelder Polizeiwache. Die Scheine waren vorbereitet und wurden von Angestellten der Firma Fuhr ausgestellt. Die Ausgangszeit war zeitlich begrenzt, und die Polizei oder die Land- und Stadtwacht (eine Hilfspolizeitruppe) kontrollierte sehr scharf. Polinnen und auch die „Ostarbeiterinnen“ mussten dabei einen Aufnäher („P“ für Polen – „Ost“ für Ostarbeiter) auf dem Oberkleid tragen, der sie als Ausländer kenntlich machte. Wurden sie ohne den Aufnäher oder bei Überschreitung der Ausgangszeit erwischt, gab es empfindliche Strafen, oft kam es auch zu körperlichen Züchtigungen.

Rosalia und Veronika Mendelska, zwei Altenburgerinnen, die bereits in den zwanziger Jahren von Polen nach Altenburg zur Firma Fuhr gekommen waren, fungierten zunächst als Dolmetscherinnen. Alle polnischen Mädchen, die zum Teil aus sehr guten Verhältnissen stammten, lernten aber rasch Deutsch und konnten sich dann selber mit den Arbeitskollegen, den Vorgesetzten und dem Büropersonal verständigen.

Die Forderungen nach Säcken und Strohsäcken wurden im Laufe des Krieges immer drängender, die Lieferfristen immer kürzer. Die Weber und Näherinnen, auch die im Kalander und in der Spulerei beschäftigten Leute mussten laufend Überstunden ableisten. Neben Stückgutauslieferungen wurde fast jede Woche ein Waggon mit Material bei der Alsfelder Güterabfertigung abgefertigt. Zur Anlieferung der Warenballen wurde der Firma Fuhr vom Beschaffungsamt ein Ford Personenwagen zur Verfügung gestellt, der mit einer Schlepperachse umgerüstet und mit Gas betrieben wurde. Beide Gasflaschen waren mit einem Metallgestell auf dem hinteren Teil des Autos befestigt. Das Fahrzeug sah recht merkwürdig aus, zog aber brav den schweren zweiachsigen Anhänger. Ende 1943 wurde der Firma vom Arbeitsamt ein polnischer Kraftfahrer zur Verfügung gestellt, bis dahin wurde das Auto von Heinrich Fuhr gefahren.

Die beiden Firmenchefs waren recht unterschiedliche Charaktere. Heinrich Fuhr hatte die gesamte technische und Konrad die kaufmännische Leitung des Betriebes. Heinrich war energisch und robust und es kam schon einmal zu Auseinandersetzungen mit Betriebsangehörigen – sie gingen aber in der Regel friedlich aus, wenn sie auch hie und da lautstark waren. Konrad Fuhr war sehr ruhig, er saß meist mit der Zigarre an seiner geliebten Schreibmaschine. 1943 musste er wegen einer hartnäckigen Hauterkrankung nach Gießen in die Hautklinik, dort verstarb er im Sommer desselben Jahres. Bei seiner Beerdigung ging ein sehr schweres Gewitter nieder. In einem Gespräch mit dem Autor dieses kleinen Berichtes bei einer Luftschutzwache (es war Fliegeralarm) erzählte Konrad, dass er vor 1933 Mitglied der Alsfelder Freimaurerloge gewesen war. Beide Fuhrs, Heinrich und Konrad, hatten je einen Sohn, Heinrich noch die Tochter Ingeborg. Die Söhne erhielten die Vornamen ihrer Väter – beide, sind noch 1944 gefallen.

Heinrich Fuhr sen. erlebte das Ende des Krieges in Gefangenschaft, er kam recht spät zurück nach Altenburg. Der Betrieb wurde in der Zwischenzeit von einem Treuhänder verwaltet, aber später von Heinrich Fuhr ganz aufgegeben. Heinrich verstarb 1960, die Tochter Ingeborg war zunächst beruflich in Frankfurt engagiert und lebt heute, verheiratet mit einem Wirtschaftsjournalisten, im Westerwald. Die gesamte Anlage wurde bald von der Bundesvermögensstelle aufgekauft, zu Beginn der 60er-Jahre als Reparaturwerkstätte für BGS-Fahrzeuge, und anschließend mehrere Jahre durch die amerikanische Armee zur Lagerung von schwerem Material für Sperrtruppen genutzt. Heute sind die Gebäude weitgehend verfallen.

Fotografien der verfallenen Fabrikgebäude ergänzend eingefügt:

Fotos (vom 07.06.2024 vom GFA eingefügt) © GFA

Anmerkung:

Für die bereitwilligen Auskünfte und Hinweise bedankt sich der Author bei den beiden ehemaligen Buchhalterinnen Frau Elfriede Usinger (damals Bätz) und Frau Hilde Klingel (damals Freitag).

Erstveröffentlichung:

Helmuth Riffer, Die Fuhr’sche Fabrik von 1925 bis 1945, in: Magistrat der Stadt Alsfeld (Hrsg.): Alsfeld und seine Stadtteile (Band 8), Altenburg, Alsfeld 1997, S. 134-135.

[Stand: 09.07.2024]